Deutsche Ingenieure in Medina: Schattenspender aus dem Ländle - DER SPIEGEL

2022-10-12 12:33:25 By : Ms. Esse Zhao

Pilgerstadt Medina: Schirme für die Gläubigen

Christian Wagner steht auf dem Dach des Mövenpick-Hotels in Medina. Die Sonne brennt ihm ins Gesicht, die Klimaanlagen rasseln. Er schaut auf den Vorplatz der Prophetenmoschee hinunter: Alles ist weiß - die Sonne, der Mittagshimmel, der Marmor, fast ein ganzer Quadratkilometer davon. Nur ein kleine Schneise Grau durchschneidet ihn. Das ist der Schatten, den eine zur Probe aufgespannte Reihe von Sonnenschirmen wirft, die wie vier Pilze dort unten stehen. Auch sie sind weiß.

"Sehen Sie die Leute dort drüben?" fragt er. Ganz hinten betritt eine Gruppe von Pilgern den Platz, sie steuern direkt auf eines der Moschee-Portale zu. "Passen Sie auf. Gleich werden sie die Richtung ändern." Tatsächlich. Zuerst schert einer aus der Gruppe aus, dann folgen ihm die anderen, genau auf die graue Schneise zu. Kaum haben sie den Schatten erreicht, verlangsamt sich ihr Schritt, jetzt schlendern sie, sie fangen an zu sprechen. "Das sehe ich immer wieder gern", sagt Wagner. "Der Mensch sucht den Schatten."

Die Moschee von Medina al-Munawwarah, der "erleuchteten", der "strahlenden Stadt" im Hinterland des Hedschas, ist nach der Großen Moschee in Mekka die zweitheiligste Stätte des Islam. Nach Medina ist der Prophet im Jahr 622 ins Exil gegangen, als er sich mit den Mekkanern überwarf, mit diesem Datum beginnt die islamische Zeitrechnung. Von Medina aus schlug er seine ersten Schlachten, hier ist er beerdigt.

Und zu Medina, 350 Kilometer nordwestlich von Mekka, 150 Kilometer vom Roten Meer entfernt, haben die Muslime seit je ein besonderes inniges Verhältnis. Das hat zum einen mit der Gegenwart des Propheten zu tun - mancher prominente Saudi-Araber ließ sich hier beerdigen, so etwa 1988 Osama Bin Ladens genialisch-flamboyanter Bruder Salim, dessen Baukonzern das moderne Medina errichtet hat.

Zum anderen spielt auch das Lebensgefühl der Stadt eine Rolle: Männer wie Saudi-Arabiens legendären Ölminister Zaki Yamani trifft man während des Fasten- und Feiermonats Ramadan nicht im hektischen Mekka, sondern in Medina an. Medina verhält sich zu Mekka wie der Richmond Park zum Piccadilly Circus. Mekka ist laut, Medina still, Mekka ist eine dichte Stein- und Felsenmetropole, Medina eine Oasenstadt, ein Pilgerziel mit Wellness-Faktor.

"Kältesee" in der Moschee

Einen gewissen Anteil daran hat die Firma, für die der deutsche Techniker und Muslim Christian Wagner seit Jahren nach Medina reist. Schon Anfang der neunziger Jahre, als die Prophetenmoschee von 26.000 auf fast 120.000 Quadratmeter, eine Fläche von annähernd 16 Fußballfeldern, erweitert wurde, hatte das Stuttgarter Architekturbüro SL-Rasch eine für Sakralbauten bis dahin neue Idee entwickelt: fahrbare Kuppeln. Wenn die Hitze im Sommer unerträglich ist, schließen sie morgens das Dach des Gebäudes und öffnen es nachts, um laue Luft hereinzulassen.

Das Resultat: ein wohltuender "Kältesee", der zusammen mit einer riesigen Klimaanlage den Aufenthalt in der Moschee zum Vergnügen macht. Viele Pilger verlassen sie oft stundenlang nicht, manche übernachten sogar auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden.

Doch selbst die Erweiterung der Moschee reicht heute nicht mehr aus, die Massen der Pilger unterzubringen, die nach dem Hadsch, der jährlichen großen Pilgerfahrt, von Mekka nach Medina kommen. Sie beten draußen, unter freiem Himmel. Das mochte in den vergangenen Jahren noch hingehen, als der Hadsch in die kühlen Wintermonate fiel, der letzte auf Mitte November. Von nun an aber rückt die große Pilgerfahrt, dem Mondkalender folgend, mit jedem Jahr zehn Tage näher an den Sommer heran. Abhilfe war geboten.

Auf einen Latte ins Mövenpick

Die Stuttgarter überzeugten König Abdullah und seinen Chefbaumeister, Salim bin Ladens Bruder Bakr, mit einer eleganten Idee: Statt einer neuerlichen, diesmal unweigerlich ins Gigantische ausartenden Erweiterung der Moschee schlugen sie vor, den riesigen Vorplatz zu nutzen und mit hydraulisch ausklappbaren Riesenschirmen zu versehen. Insgesamt 250 davon haben sie aufgestellt, jeder davon gut 20 Meter hoch und in aufgespanntem Zustand 25 mal 25 Meter groß. Da die Schirme oben exakt abschließen, ist damit eine zusätzliche Schattenfläche von mehr als 150.000 Quadratmetern gewonnen, mehr als die gesamte Fläche der Moschee.

Die Schirme sind mit einem Kunststoff bezogen, der so tragfest ist, dass die Monteure bequem auf den Segelflächen stehen, ja sogar herumspazieren können; auf der Unterseite sind sie blass hellblau bedruckt, so dass sie den Eindruck einer großen Halle erwecken. Vor allem aber lassen sie sich je nach Temperaturverhältnissen öffnen und schließen. Nur drei Minuten dauert es, dann sind die Schirme abends zugeklappt und verschwinden, jeder für sich, in einer schlanken Säule. Aus der Segeltuchhalle über dem weißen Marmor werden 250 Laternenmasten, in denen sich aufwendige Technik verbirgt - bis am nächsten Morgen erneut die Sonne aufgeht und auf die Stadt herunterbrennt.

Vier Jahre lang hat das Stuttgarter Unternehmen an dem Millionenauftrag gearbeitet. Auf dem aktuellen Google-Earth-Satellitenbild von Medina sind, Stand Mai 2009, erst 56 Schirme zu sehen; gut ein Jahr später, in diesem Sommer, war der letzte Schirm aufgespannt.

So anspruchsvoll der Auftrag war - an den Bedingungen gemessen, unter denen seine Kollegen gerade an der Turmuhr von Mekka bauen, hatte Christian Wagner in Medina eine schöne Zeit: Er wohnte draußen am Rande der Oasenstadt. Und wenn ihn bei der Arbeit dürstete, ging er ins Mövenpick oder ins Oberoi Hotel auf einen Latte rüber, wenn ihm die Hitze unerträglich wurde, nahm er ein Bad im Kältesee. Das muss sich rumgesprochen haben. Sein nächster Auftrag ist in Mekka.

Prophetenmoschee von Medina: Nach der Großen Moschee in Mekka ist das Gotteshaus in dem 350 Kilometer entfernten Medina die zweitwichtigste Stätte des Islam. Alljährlich kommen Massen an Pilger nach dem Hadsch hierher,...

... die Moschee selbst ist nicht mehr groß genug für die Gläubigen. Die Lösung heißt: ein Schirmwald auf dem Vorplatz.

Schattenspender: Je nach Temperaturverhältnissen lassen sich die Hightech-Schirme öffnen und schließen. Am Morgen recken sie ihr Gestänge in den Himmel,...

...geöffnet bieten sie ganz neue Ausblicke auf die Moschee-Türme,...

...am Abend klappen sie sich in nur drei Minuten zusammen,...

....dann wird aus der Segeltuchhalle über dem weißen Marmor ein Wald aus 250 Laternenmasten.

Technik aus dem Schwabenland: Vier Jahre lang hat das Stuttgarter Architekturbüro SL-Rasch an dem Millionenauftrag gearbeitet,...

...vor Ort war der deutsche Techniker Christian Wagner,...

...insgesamt 250 Schirme haben die Stuttgarter aufgestellt, jeder davon gut 20 Meter hoch und in aufgespanntem Zustand 25 mal 25 Meter groß.

Da die Schirme oben exakt abschließen, ist eine zusätzliche Schattenfläche von mehr als 150.000 Quadratmetern gewonnen, mehr als die gesamte Fläche der Moschee.

Skulpturen auf dem Vorplatz der Prophetenmoschee: Als schlanke Säulen tarnen sich die kühlenden Schirme,...

...unter denen tagsüber die Pilger Schutz vor der sengenden Sonne suchen.

Google-Earth-Bild: Aus der Luft erkennt man die Moschee und die ersten aufgestellten Schirme.