Hier spricht der Aushilfshausmeister! » Ein paar Dinge mehr oder weniger

2022-10-09 19:17:38 By : Mr. Zhaozhong Guo

An den Oberflächen kratzen

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

Die großen und kleinen Dinge

Diese Dinge werden jetzt vermehrt in autobiographisch getönten Sachbüchern behandelt. Vielleicht ist die Wertschätzung der Dinge und nicht der Lebewesen neben der fortschreitenden Musealisierung von Gegenständen (bis hin zu ganzen Lebensbereichen und -weisen) eine Alterserscheinung: Also dass man seine Aufmerksamkeit, wenn schon nicht auf die letzten, dann wenigstens auf die kleinen und kleinsten Dinge richtet, um sie mit Bedeutung/Erinnerung aufzuladen, und zum Reden zu bringen – da die menschlichen Gesprächspartner langsam wegsterben oder langweilig werden.

Die „Arnold-Hau-Schau“ von Robert Gernhardt hat diese Dingorientierung in dem Film „Wenn das Milchkännchen erzählen könnte“ beispielhaft an einem allzu geschwätzigen Milchkännchen auf einer gedeckten Kaffeetafel gezeigt. Der Film endet mit der aufklärerischen Versicherung: „Zum Glück können Milchkännchen nicht reden.“

Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch („Magister Schievelbusch“ nannte ihn Peter Hacks, über den Schivelbusch seine Dissertation „Sozialistisches Drama nach Brecht schrieb) lebt in New York und Berlin – großteils von „Projektförderungen“. In seinem Buch „Die andere Seite“ (2021) hat der „Privatdozent“ den Unterschied im Umgang mit den Dingen in Amerika und in Deutschland thematisiert. Wobei er hier wie dort vor allem in Bibliotheken und Archiven sitzt. Schon als Student in Frankfurt beschäftigten ihn am „Prozeß der Zivilisation“ Dingkörper wie „Gabel und Schnupftuch“. Später folgte eine gründliche Beschäftigung mit der Eisenbahn(fahrt) hüben und drüben (wo die Eisenbahn „Wildnis in Wert verwandelt“) sowie mit der Geschichte der künstlichen Beleuchtung.

„Die Dingwelt“ wurde diesem teilnehmenden Beobachter der antiautoritäten Studentenbewegung eine „Alternative zur Theoriewelt“. Inzwischen veröffentlichte der Wissenshistoriker Michel Foucault eine „Ordnung der Dinge“ und der Wissenssoziologe Bruno Latour zählte die Dinge in seiner „Akteur-Netzwerk-Theorie“ zu den „Akteuren“.

Schivelbusch geht es mit Adorno um die „Gutartigkeit der Dinge“ – mindestens den Stand der Unschuld vor dem Sündenfall ihres Eintritts in die Sphäre der kapitalistischen Zirkulation.“ Mit Kracauer würde er ihnen gerne „ihr unkenntliches Leben entlocken“. Er denkt dabei vielleicht an die Einzelstücke der Handwerker in ihrer Blütezeit, wobei ihm jedoch das Prinzip der Masse, der Massenproduktion von Dingen, von zentraler Bedeutung ist – dieser Umschwung vom europäischen Spätmittelalter zur amerikanischen Gesellschaft. „Amerika ist die Inkarnation der Massenhaftigkeit“. Daraus folgt das „in europäischen Augen naiv-positive Verhältnis der Amerikaner zu Fortschritt und Maschinerie.“

Über den hierzulande in Akademiker- und Künstlerkreisen um sich greifenden „anbiedernden amerikanischen Akzent“ schreibt er: „Amerika ist in den Naturwissenschaften so klar die Führungsmacht, dass die Deutschen durch ihre sprachliche Mimikry den Anschluss suchen.“

Auch in den US-Naturwissenschaften macht die „Maschinerie“ sozusagen den Kern aus – indem mit gentechnischen Mitteln (Dingen, Geräten) die „Algorithmen des Lebendigen“ erforscht werden – wobei sich die Biologie in Chemie, Physik und Mathematik auflöst.

Die Bremer Kritikerin dieser weltweit dominanten Gerätewissenschaft Silja Samerski meinte in einem Interview: „Ich habe eine ganze Weile nachgedacht, darüber gegrübelt, wie es sich außerhalb des Labors über das ,GEN‘ reden lässt, ohne dem populistischen Gen-Gerede auf den Leim zu gehen. So, wie es in den Lehrbüchern und populärwissenschaftlichen Abhandlungen steht, gibt es ,GENE‘ nicht. ,GEN‘ bezieht sich nämlich auf keine nachweisbare Tatsache, es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs. Wenn Genetiker von ,GENEN‘ sprechen, so bezeichnet das etwas ganz Unterschiedliches, Populations-Biologen benutzen den Terminus anders als Molekulargenetiker oder klinische Genetiker. ,GEN‘ ist nichts anderes als ein Konstrukt für die leichtere Organisation von Daten, es ist nicht mehr als ein X in einem Algorithmus, einem Kalkül. Aber außerhalb des Labors wird es dann zu einem Etwas, zu einem scheinbaren Ding mit einer wichtigen Bedeutung, mit Information für die Zukunft … über das sich anschaulich und umgangssprachlich reden lässt. Es ist aber doch sehr fraglich, ob man umgangssprachlich über Variablen von … oder Bestandteile einese Kalküls oder Algorithmus sprechen kann, ob sich also überhaupt außerhalb des Labors sinnvolle Sätze über ,GENE‘ bilden lassen, die von irgendeiner Bedeutung sind. Wenn aber solche Konstrukte in der Umgangssprache auftauchen und plötzlich zu Subjekten von Sätzen werden, mit Verben verknüpft werden, dann werden sie sozusagen in einer gewissen Weise wirklich.“

Diese kleine Chronik zwischendurch (immer wenn sich mal wieder einige „Maßnahmen“ angesammelt haben) erlaubt einen Einblick in die praktische Computerintelligenz, wobei sich manchmal alte Geldbeschaffungsmaßnahmen mit neuester Technologie verbinden – so wie hier: „Wollen Sie Ihre Niere für Geld verkaufen? Unser Krankenhaus ist spezialisiert auf Nierenchirurgie / Transplantation und andere Organ-Behandlung, werden dringend in der Notwendigkeit für O + ve, A + ve und B + ve Nierenspender mit oder ohne Pass und wir bieten Ihnen eine schöne Menge von maximalem Betrag $ 950.000 US Dollar. Jeder Interessierte sollte freundlich Kontaktieren Sie uns per E-Mail: ubth11@gmail.com oder WhatsApp +2347063061652“

Der folgende Betrugsversuch ist ebenfalls nicht mehr neu, aber die Bank (bei der ich gottlob kein Konto habe): „Guten Abend Helmut Höge wir müssen Sie davon in Kenntnis setzen, dass es zu 3 fehlgeschlagenen Anmeldeversuchen gekommen ist. Um möglichen Schaden zu vermeiden, haben wir ihren Kontozugang vorsorglich gesperrt. Damit Sie weiterhin im vollen Umfang die Vorteile des OnlineBankings müssen Sie sich anhand ihrer Daten verifizieren. Hier klicken. Mit freundlichen Grüßen Deutsche Bank Sicherheit“

Die bereits auf vielen Internetseiten als Betrüger bezeichnete „Fin Tech“ behelligte nun auch mich: „Lieber Freund, Hören Sie aufmerksam zu und ich werde Ihnen zeigen, wie Sie wirklich große Gewinne mit Hilfe des Internets machen können. Vor einigen Monaten rollten sich meine Freunde vor Lachen auf dem Boden als ich ihnen sagte, dass ich mir ein profitables Online-Geschäft aufbauen will. „Ja sicher, toll Gelegenheit“ sagten sie alle, da ich absolut keine Website-Design-Fähigkeiten hatte und auch nichts von HTML verstand und keine Programmierkenntnisse besaß… ich hatte in der Tat nicht viel Computer-„Know-how“ (das habe ich auch immer noch nicht). Ihr Lachen verwandelte sich schnell zu Erstaunen, nachdem ich FinTech beigetreten bin und die Gewinnflut nicht mehr endet. Sie könnten Monate (und Tausende Dollar) verschwenden, um zu versuchen, herauszufinden, was über das Internet tatsächlich funktioniert. Oder Sie könnten sich die Frustration, Zeit und die Fehler ersparen, indem Sie meinem Beispiel folgen. Hier ist der Link damit Sie einen Blick auf das neue Programm werfen können Sie werden es nicht bereuen! Mit freundlichen Grüßen Lukas Kolditz“

Hier ist eine Geldbeschaffungsmaßnahme, die mich mit ihrem Nachsatz ins Grübeln brachte:

„Hallo, Finanzmittel von bis zu 15.730 Euro sind derzeit verfügbar, bitte bestätigen Sie Ihre Anmeldung hier, um loszulegen. Damit wird es Ihnen noch leichter fallen, in 3 Monaten zum Millionär zu werden. Steigen Sie jetzt ein, so lange die Finanzierung noch verfügbar ist. Grüße, Daniel. Unsere Daten zeigen, das Helmut Höge unsere Internetseite aufgerufen und darum gebeten hat, ihn zu kontaktieren.“ Das kann doch nicht sein, das wüßte ich doch!

Am Sichersten scheint immer noch der Geldbeschaffungsweg über das uralte sexuell konnotierte Menscheln – nun über Email an zigtausend Adressaten gerichtet: „Hallo!!! Es tut mir Leid, dass ich Euch Schreibe, mit einer kleinen Verzögerung. Ich hoffe, dass ich dir interessant und du willst eine ernsthafte Beziehung? Ich hoffe, dass wir gemeinsame Interessen fur die Zukunft. Ich Suche einen ernsten Mann, der bereit ist an der Beziehung. Wenn du dann andere Interessen dazu, dann konnen wir uns besser nicht treffen. Ich brauche nur ein ernster und anstandiger Mann, der eine ernsthafte Beziehung haben mochtest. Mein name ist Elena, ich bin 29 Jahre alt und mit meinem Alter habe ich keine Zeit fur Spielchen! Ich die ernste und anstandige Frau, ohne schadliche Gewohnheiten. Wenn Sie Interesse an der Fortsetzung der Bekanntschaft, schreiben Sie mir bitte. Ich freue mich, dich kennen zu lernen! Warte auf deine Briefe. Elena!“

Geldbeschaffungsmaßnahmen mit „Viren“

Nicht nur die Pharmakonzerne und Virologen beschaffen sich mittels postulierter gefährlicher Viren einen Haufen Geld. 2020 erpressten Hacker mit „Schadsoftware“ rund 400 Millionen Dollar in Bitcoin von Firmen. „Ich weigerte mich, einen vierstelligen Lösegeldbetrag zu zahlen, denn meine Daten waren‘s nicht wert,“ schreibt Peter Kusenberg in „konkret“ (9/21). Es geht ihm in seinem Text um die israelische Spionagesoftware „Pegasus“, mit der einige Schweinestaaten ihre Regimegegner verfolgen: „Eine bestätigte Nachricht genügt, um den Downloadvorgang in Gang zu setzen. Sobald sich Pegasus auf dem Zielgerät befindet, kopiert der Trojaner-Auftraggeber die gewünschten Daten, sogar verschlüsselte Nachrichten kann er auslesen sowie Mikrofon und Kamera manipulieren, um die Zielperson bis ins Bett zu überwachen.“

Der Name Pegasus erinnerte mich an die Firma „Mypegasus“ des schwäbischen Juristen Jörg Stein, der mit Geldern von Treuhandanstalt, IG Metall und DDR-Belegschaften parteienverräterisch ein ABM-Pyramidenspiel aufbaute, mit dem er sich zum größten Arbeitgeber Ostdeutschlands aufschwang – bis er zum Glück an Hodenkrebs starb.

Mit „ Pegasus“ werden politisch Verdächtige verfolgt, die kleinen „Schadsoftware“-Bastler verfolgen dagegen finanzielle Interessen. So schreibt mir z.B. jemand, der sich „Volksbank“ nennt: „ Sehr geehrter Kunde, Unser System erkennt, dass Sie unseren neuen Sicherheitsdienst Volksbank SecureGo Plus noch nicht aktiviert haben.“ Und das soll ich mit einem Klick tun. Ich bin aber gar kein Volksbank-Kunde.

Kaum ist das getan, schreibt mir schon , „Pegasus“ imitierend, ein andere r Mistkerl (namens Bria – unc@ssc-ras.ru) – vielleicht d er selbe kleine Erpresser , d er auch Peter Kusenberg bedachte: „ Gr u ß dich! Ich hab einige schlechte Nachrichten für dich. Einige Monate zuvor ich habe erhalten den Zugang zu den Geräten, die Sie einsetzen beim Browsing von Webseiten. Diese Software sichert mir den Zugang zu Kontrollen aller Ihrer Geräte (das Mikrofon, die Kamera usw. ). Ich habe herunterladen Ihre Daten, die Fotos und die Browser-Geschichte auf meine Server. Ich behalte den Zugang zu Ihren Messenger, den sozialen Netzwerken, zur E-Mail, zur Chat-Geschichte und zur Kontakte-Liste. Mein Virus erneu er t seine Signaturen unaufhörlich dank dessen Driver und somit bleibt unsichtbar für Antiviren-Software.

Jetzt können Sie verstehen warum ich blieb im Schatten bis zu diesem Brief. Bei der Sammlung Ihrer Daten ich habe entdeckt dass Sie sind ein großer Anhänger der Webseiten für Erwachsene und anderer spaßhafter Sachen. Sie besuchen die Porno-Webseiten gerne und schauen die reizenden Videos oft, um sich Vergnügen zu bereiten.

Also, ich habe aufgenommen einige Ihrer schmutzigen Szenen und habe gebastelt mehrere Videos, in denen Sie masturbieren und den Orgasmus erreichen.

Wenn Sie das noch bezweifeln, ich kann mit einzelnen Mausklicken alle Ihre Videos für Ihre Freunde, Kollegen und Verwandten zugänglich machen. Außerdem, Ihre Videos können durchs ganze Internet und für alle Welt erreichbar werden.

Ich kann vernichten Ihre Reputation für ewig. Ich glaube, dass Sie dies vermeiden möchten, insbesondere in Betracht auf Natur von Videos, welche Sie bevorzugen, weil es für Sie die wahre Katastrophe wäre. Wollen wir das so beilegen: Überweisen Sie mir 1400 EURO in Bitcoin mit Kurs zum Zeitpunkt der Überweisung. Sofort nach Annahme von Geld ich werde den gesamten Schmutz vernichten und dann können wir einander einfach vergessen. Meine Bitcoin-Geldbörse zur Zahlung: bc1qkwchnzy5alj8kdyd3wn6ttwtefz26lwhumk4l7.

Wenn Sie nicht wissen, wie die Bitcoins gekauft und überwiesen werden, nutzen Sie nur jedes beliebige moderne Suchsystem. Ich gebe Ihnen 50 Stunden (über zwei Tage), um die Zahlung durchzuführen. Ich installierte die Lesebestätigung dieses Briefs und der Zeitgeber wird starten, sofort nachdem Sie es gesehen haben.

Außerdem, ich verspreche die gesamte schadenstiftende Software aus Ihren Geräten zu deaktivieren und zu vernichten. Das ist ein ehrliches Geschäft zu günstigem Preis im Hinblick darauf, dass ich verfolge Ihr Profil und den Emailverkehr seit einiger Zeit.

Senden Sie mir keine Antworten. Jede Antwort wäre sinnlos, weil Adresse des Absenders wird erstellt automatisch. Allerlei Beschwerden auch bringen keinen Sinn, weil dieser Brief sowie meine Bitcoin–Adresse können nicht nachverfolgt werden. Ich mache keine Fehler. Wenn Sie diesen Brief mit irgendjemand teilen, werden alle Videos sofort im Internet veröffentlicht und Ihre Reputation somit für immer vernichtet. Ich wünsche Ihnen viel Gluck!“

Ebenso wie Kusenberg ist mir mein Datenschatz keine 1400 Euro in Bitcoin wert, so dass ich auch diese Mail leichtherzig löschte.

Das „Zwischenhoch“ ist weg. 1986 hatte ich an einem Sonntag beim Meteorologischen Institut der Freien Universität angerufen – und gleich den diensthabenden Meteorologen am Apparat. Ich w ill Sie nicht lange stören, sagte ich, nur eine kleine Frage stellen: Was ist das für ein Dinge das Zwischenhoch, d ieses Wort kommt in letzter Zeit immer öfter in den Wetterberichten vor?

„Ah, sagte der Meteorologe, da sind Sie bei mir genau an den Richtigen gekommen. Das Wort habe ich nämlich erfunden. Als Optimist sagte ich mir: Wenn von einem Tief und einem nächsten Tief die Rede ist, dann muß dazwischen logischerweise ein Zwischenhoch sein. Meine eher pessimistischen Kollegen lehnen die Zwischenhochtheorie allerdings noch ab.“

Ich bedankte mich, legte auf und wunderte mich, dass bis in die späten Achtzigerjahre niemand darauf gekommen war, dass zwei Tiefdruckgebiete durch ein Zwischenhoch getrennt sind. Das Wort erlebte jedoch damals eine wahre Karriere.

Aber dann kam die „Klimaerwärmung“. Anfangs machte ich mich noch über die Buchläden lustig, in denen es schon bald ganze Regale mit Büchern über den „Klimawandel“ gab, auch zum Thema „Klimalüge“ gab es dann was. Ich fand das leicht irre, weil unsereins doch längst „wußte“, dass die kapitalistische Ökonomie die Ökologie früher oder später kollabieren läßt. Dazu war bereits 1960 die „Gaia-Theorie“ des NASA-Chemikers James Lovelock erschienen, die zehn Jahre danach durch die Mikrobiologin Lynn Margulis evolutionär fundiert wurde.

Je größer die Regale für Bücher über den „Klimawandel“ wurden, desto seltener tauchte das optimistische Wort „Zwischenhoch“ in den Medien auf. Irgendwann wurde es in der deutschen Wetterberichtssprache vollends ersetzt durch die Erwartung eines „Tiefs“, und sei es nur ein ganz kleines. Man machte uns also Hoffnung – auf Regen. Derweil sich Waldbrände, Baumsterben, Mißernten und austrocknende Flüsse häuften. Kein Tief weit und breit, höchstens mal eine halbdunkle Wolke, die ein paar Tropfen Regen fallen ließ.

Selbst in Bremen und Umgebung, wo es früher quasi ganze Sommer durc h regnete, stöhnte man: „Wi möt Regn häppn!“ Das ist die „Klimaerwärmung“, so die Klugscheißer, die schier all Veränderungen in der Natur auf den Klimawandel zurückführten. Etwas zurückhaltender sahen das lediglich die Autoren des Buches „Die Klimafalle“ (2013) : der Ethnologe Werner Krauß und d er Donaldist und Klimaforscher Hans von Storch, Leiter des „Instituts für Küstenforschung“ im Helmholtz-Zentrum Geesthacht bei Bremen. Für sie hat die inflationäre Ankündigung der Klimakatastrophe zu einem Verlust der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft geführt. Dabei ist der Klimawandel keine wissenschaftliche Frage, sondern eine gesellschaftliche. Er muss in regionaler Kultur, Alltag und Politik verankert werden, statt sich der Politik anzudienen.

Die ausbleibenden Tiefs mit Regen haben nicht nur die „Zwischenhochs“ liquidiert, das wäre noch das Wenigste, sondern auch alle Lebewesen in Bewegung gesetzt: Während die Flora und Fauna auf der Südhalbkugel in Richtung Antarktis unterwegs ist, bewegen sich die Tiere und Pflanzen auf der Nordhalbkugel in Richtung Arktis . Der Wissenschaftsjournalist Benjamin von Brackel hat das in seinem Buch „Die Natur auf der Flucht“ (2021) sehr überzeugend herausgearbeitet.

Auf dem Eisbären-Archipel Wrangelinsel sowie auf der Beringinsel, wohin sich die letzten Mammuts zurückgezogen hatten – und dort dann infolge der Vereisung starben, könnten bei anhaltender Klimaerwärmung in 100 Jahren wieder Elefanten ein Asyl finden, meinte ein optimistischer Wrangelinsel-Erforscher 2010. Im Übrigen hätten die sowjetischen Erforscher der arktischen Inseln bereits in den Dreißigerjahren einen Rückgang des Eises festgestellt. Die Klimaerwärmung sei also kein Resultat der forcierten Industrialisierung der Nachkriegszeit, sondern begann schon weitaus früher.

Und die Eisbären sind dadurch auch nicht zum Aussterben verurteilt. Sie hatten sich einst mit der Ausbreitung des Eises von Braunbären zu weißen Eisbären gewandelt und könnten sich mit dem Rückgang des Eises auch wieder von amphibisch lebenden weißen Bären zu braunen Landbären (zurück-) entwickeln, meint der Münchner Ökologe Josef Reichholf.

Für die Politik, die den Klimawandel abbremsen will, so jedenfalls ihr Versprechen, gilt, dass sie nicht mehr global denken darf , sondern planetarisch denken muß. Das legen jedenfalls der Soziologe Bruno Latour in seinen Gaia-Vorträgen und der Historiker Dipesh Chakrabarty mit seinem Werk „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“ nahe . Für den optimistischen Wetterbericht gilt dagegen, dass er gelegentlich wenigstens kleine „Zwischentiefs“ ankündigen sollte.

Noch so ein komisches Ding: der Steckrübenwinter

Als ich die Prognosen für den gas-, öl- und Lebensmittel-verknappten und erneut corona-verdächtigen Winter las, dachte ich, das wird ein wahrer „Steckrübenwinter“ – wieder mal. Und das wollte ich genauer wissen. Erst einmal überraschten mich im Internet die vielen Kochrezepte für Steckrüben – mit Apfel, Schmand, Würstchen. Verbraucheraufklärer beantworteten die Frage „Wie gesund ist dieses Wintergemüse?“ Ein Marktbericht teilte mit, dass immer mehr Steckrüben angebaut und nachgefragt werden – oder umgekehrt. Steckrüben sind jedenfalls „wieder da und voll im Trend“, schreibt das iva-magazin. Schon werden Steckrüben aus England importiert.

Der dräuende Steckrübenwinter 2022/23 wäre der dritte und alle drei stehen sie mit einem Weltkrieg in Zusammenhang. Der erste so genannte Steckrübenwinter fand 1916/17 mitten im Ersten Weltkrieg statt, der zweite gleich nach dem Zweiten Weltkrieg 1946/47, der dritte würde ab kommenden Herbst vor dem Dritten Weltkrieg stattfinden. Dieser wird jedoch nur von den darin involvierten so genannt.

„Wir“ würden damit alle drei Zusammenhänge von Steckrüben und Krieg durchgespielt haben. Meine Oma dachte immer mit Schaudern an den letzten Steckrübenwinter: „Es gab ja sonst nischt!“ Und wenn man den vielen Kritikern der Bundesregierung, der NATO und der USA, namentlich Sahra Wagenknecht, folgt, dann werden es auch diesmal wieder die Massen der Zukurzgekommenen sein, die mit triefenden Nasen in eiskalten Wohnungen hocken und eine trostlose Steckrübensuppe löffeln.

Der erste Steckrübenwinter bezeichnet eine „Hungersnot“, ausgelöst laut Wikipedia „ durch kriegswirtschaftliche Probleme und die britische Seeblockade in der Nordsee“. England hatte bereits bei Kriegsbeginn 1914 ein „Handelsembargo“ gegen Deutschland erlassen, daneben fielen die Einfuhren aus dem ebenfalls von Deutschland angegriffenen Russland weg, ab 1917 auch die aus den USA.

Als 1917/18 die Bolschewiki in Russland die Macht übernahmen und Adel und Bourgeoisie ihren Besitz verloren, galt ein solche s Embargo auch für die Sowjetunion. Erst mit dem Vertrag von Rapallo 1922 gelang es den beiden Ländern, das Handelsboykott der Siegermächte zu durchbrechen – für die UDSSR nach Westen und für Deutschland nach Osten hin, mit weitreichenden Kooperationen, auch und vor allem in der Waffenproduktion.

Der Steckrübenwinter 1916/17 hatte zum Hintergrund auch die deutsche Landwirtschaft, der es an Arbeitskräften, Zugtieren und Kunstdünger mangelte, zudem kam es aus Schlechtwettergründen nur zu einer mageren Kartoffelernte. Das Deutsche Historische Museum zeigt dazu online einen Zeitungsartikel von damals : „Kohlrübe statt Kartoffel“ betitelt , erstere sollte als „Ersatzmittel“ für letztere herhalten.

Die hungernden Städter unternahmen „Hamsterfahrten“ aufs Land, wo die Bauern ihnen Lebensmittel zu extrem asymetrischen Konditionen für ihre Wertgegenstände eintauschten , was zu teils scharfen Gegensätzen zwischen Stadt- und Landbewohnern führte, wie es in dem Buch „Deutschland auf dem Weg zu sich selbst“ (2002) heißt . Man lästerte über „Perserteppiche im Kuhstall“.

Der nächste Steckrübenwinter 1946/47 war ein Nachkriegs-“Hungerwinter“, zu dem es in den zerbombten Städten während des strengsten Winters des 20. Jahrhunderts kam. „ In Deutschland starben nach Schätzungen von Historikern mehrere hunderttausend Menschen; etwa gleichzeitig verhungerten in der Sowjetunion 1946 und 1947 ein bis zwei Millionen oder starben an den Folgen extremer Wetterbedingungen,“ heißt es auf Wikipedia. Vielerorts brach die Lebensmittelversorgung zusammen, ebenso die mit Heiz- und anderen Kraftstoffen . Auch die politischen Versorgungsstränge brachen zusammen. Der kommunistische Landrat in Lauterbach (im Vogelsbergkreis) „ organisierte“ mehrere Lastwagen, mit denen lebensnotwendige Waren aus Hamburg herangeschafft wurden. Die Stadt und ihr Umland hatten sich für selbständig erklärt, sogar bereits eigene Briefmarken gedruckt.

Zwar unternahmen die hungernden Städter wieder „Hamsterfahrten“, aber es entstanden daneben nun auch „Schwarzmärkte“ in den Städten. Hier wie dort ging es um Ta u schhandel, aber auch um Diebstahl, zum Teil b anden mäßig . Der NDR erwähnte den Kölner Kardinal Joseph Frings, der in seiner Predigt am Silversterabend 1946 „Mundraub für den Eigenbedarf“ rechtfertigte, das Organisieren von Nahrung und Kohle wurde daraufhin auch „ fringsen “ genannt. Der Zugverkehr, sowieso durch den Krieg noch schwer beeinträchtigt , kam zeitweise zum Erliegen, zerstört waren auch etliche Brücken, viele Flüsse froren im Winter 1946/47 zu. Als es wärmer wurde, zerstörten Eisschollen in Bremen mehrere Weserbrücken. Die ARD zeigte 2009 eine Dkumentation: „ Hungerwinter – Überleben nach dem Krieg“.

Für den kommenden dritten Steckrübenwinter sei noch hinzugefügt, dass ein Kilo derzeit noch 1 Euro 59 k ostet, da aber die Ernte erst zu Winterbeginn erfolgt, handelt es sich durchweg um „Lagerware au s Nordeuropa“.

Ende der Achtzigerjahre besuchte ich den Westberliner Stammtisch des Erfinderverbandes und war erstaunt, dass sich fast alle Teilnehmer mit Verbesserungs-Erfindungen ausgerechnet an Fahrrädern beschäftigten. Bis auf einen Busfahrer, Manfred Rosenau, der mit Rückspiegeln bei Lkw experimentierte, die keinen „toten Winkel“ mehr haben. Er berichtete, dass er mit dem Ergebnis zum Verband der Automobilindustrie gegangen war, die das Ergebnis geprüft hätte. Sie fanden seine Erfindung brauchbar, er sollte jedoch ihr Design verbessern. Dazu rüstete er noch einmal seinen Bastelkeller auf (für insgesamt 80.000 DM) – und legte dann die neue Rückspiegelversion dem Verband vor. Nach einigen Wochen wurde ihm schriftlich mitgeteilt, dass man kein Interesse an seiner Erfindung habe. Von einem Verbandsmitarbeiter erfuhr er: Weil die Automobilindustrie kein Interesse an einer Reduzierung der Unfälle habe.

Inzwischen haben sich die Unfälle zwischen Radfahrern und rechtsabbiegenden L kw in Berlin enorm vermehrt, mit teilweise tödlichem Ausgang, obwohl immer mehr Lkw mit Rundum-Videokameras ausgestattet sind. Es gibt ein Diplomarbeit, die 141 solcher Unfälle analysierte und dabei die „Schwachstellen“ der L kw im Hinblick auf die aktive Sicherheit (die Sicht aus den L kw ) und die passive Sicherheit (Überrollschutz) aufzeigte.

Nach jedem ü berrollten Radfahrer kommt es zudem zu hitzigen Diskussionen, in denen prolophob argumentiert wird, dass die L kw -Fahrer durchweg moralische Defizite haben, die mit ihrem L kw -Führerschein nicht behoben werden, zudem würden die Transportunternehmer ihre Fahrer ständig zu noch größerer Eile antreiben.

2021 gingen die Unfälle zwischen Radfahrern und LKWs – wahrscheinlich coronabedingt – erstmalig zurück, wie die tagesschau meldete. Dafür kommt es jedoch seit einigen Jahren zwischen Fußgängern und den vielen eiligen Fahrradkurieren sowie den E-Bike- und E-Scooter- Fahrern zu immer mehr Unfällen, die allerdings harmlos er sind.

Für mich stellen die oft auf den Fußwegen fahrenden Radfahrer dennoch eine größere Gefahr dar als die Autos, außerdem ärgert es mich, dass so ein Innovationsgedöns um diese Scheißfahrräder gemacht wird, die dadurch immer schneller und teurer werden. Für das Geld, dass ich als Jugendlicher für mein erstes (und letztes) Fahrrad ausgab, würde ich heute nicht mal mehr ein Fahrradschloß bekommen. Kurzum: Während die Radfahrer die L kw -Proleten hassen, halte ich die juvenilen Radraser mit Sturzhelm für modische Autisten , die nichts sehen außer mögliche Gefahrenquellen, während ich als Fußgänger jedes kleine Gewächs und jeden Vogel am Straßenrand registriere .

Die Radfahrer werden auch von den Autofahrern herzlich verabscheut, auch und vor allem, weil ihnen immer mehr Fahrspuren auf den Innenstadt-Straßen zugestanden werden, wodurch sich für den Autoverkehr die Staus vermehren. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) im „ Bündnis mit den Verkehrs-, Umwelt- und Verbraucherverbänden sowie der Fahrradwirtschaft“ nennt das eine „Reform des Straßenverkehrsgesetzes“, die nicht zuletzt dem „Klimaschutz“ zugute kommt.

Auch auf der Lkw- Erfinderseite tut sich was: Die Zeitung „Rheinpfalz“ berichtete, dass der L kw -Fahrer Manfred Kübler, „ein Tüftler und Macher“, seit 25 Jahren daran arbeitet, den „toten Winkel“ in der Fahrerkabine mit Überwachungstechnik zu reduzieren. Ein Fahrlehrer bestätigte der „Rheinpfalz“, dass Kübler „mit seinem Rundumsicht-System ‚einiges vorgelegt‘ habe,“ sein eigener moderner Fahrschul-LKW sei auch mit einem Kamerasystem ausgestattet, „‘aber der kann das nicht, was Küblers System dem asymmetrisch im Fahrerhaus sitzenden Lenker an Über- und Rundumsicht verschaffe‘. Die Aussage des ADFC, dass es keinen toten Winkel an LKW mehr gebe, sei ‚faktisch falsch‘.“

Küblers „System ist offenbar nahezu perfekt“ , aber kein Schwein, unter Truckern, auf Messen und in Werkstätten, interessier t sich dafür, obwohl es dem Erfinder darum geht, „Menschenleben, vor allem Radfahrer, zu retten“. Dafür interessierte sich 2021 die Polizei für seine Erfindung : Sie zwang ihn, die „zusätzliche Beleuchtung am L kw , vorstehende Kameragehäuse, vermeintlich lose Kabelbündel und scharfkantige Spiegelhalterungen zu demontieren, bevor er weiterfahren durfte.“ Außerdem bekam er eine Anzeige und einige Punkte im Zentralregister. Das Amtsgericht in Landau verurteilte ih n nun zu einem Bußgeld von 150 Euro, die er abstottern darf. Küblers System mag zwar „genial sein , aber in der handwerklichen Umsetzung besteht noch Luft nach oben,“ schr eibt „Die Rheinpfalz“.

Wir machten 14 Tage „Urlaub“ auf einer kleinen griechischen Insel, obwohl man als Selbständiger ja keinen „Urlaub“ hat – und es dort auf Padmos auch keine Arbeit für uns gab. Aber ich habe in meinem Leben noch nie „Urlaub“ gemacht, höchstens organisierte „Journalistenreisen“ – und die waren oft beschissen genug – kosteten jedoch nichts, während diese „Urlaubsinsel“ uns zu zweit über viertausend Euro wert war und , mit anstrengender Hin- und Rückreise (wegen Streiks ausgefallene Flüge) verbunden.

Wie so viele griechische Inseln hat auch Padmos eigentlich nur Sonne, Strand und blaues Meer mit Touristen-Restaurants, die alle annähernd das gleiche verkaufen, zu bieten. Aber auch eine lange Leidensgeschichte: Erst eroberten die Phönizier die Insel, dann die Athener, die Perser, die Makedonier, die Römer, die Goten, die Byzantiner, die Sarazenen und Araber, die Venezianer, die Türken, die Russen, erneut die Türken, und zwischendurch überfielen immer wieder Piraten die Insel, die alle Bewohner niedermetzelten. Nach der „griechischen Revolution“ wurde Paros 1830 dem Nationalstaat angeschlossen.

Von 5000 vor Christi bis ins 19. Jahrhundert hatten es beinahe alle Eroberer neben einigen kleinen Erzlagern und Marmor auf die Bäume dort abgesehen – für den Bau ihrer Schiffe, die sie dann gegeneinander kämpfend im Mittelmeer versenkten. Übrig blieb ein weitgehend karges, felsiges Land, nur stellenweise bewachsen von Dornensträuchern und Sukkulenten. Die Wüste Gobi ist grün dagegen!

Die Bewohner von Paros sind – vielleicht gerade wegen der Kargheit ihrer Insel – große Floraliebhaber: Überall um und an ihren Häusern wachsen die schönsten blühenden Pflanzen, die zum großen Teil mit Leitungen automatisch bewässert werden. Gewächse, die wir nur als kümmerliche Topfpflanzen kennen, wachsen sich hier zu hohen Bäumen aus, wir saßen z.B. in einem Restaurant unter zwei Gummibäumen, deren Stämme unten so dick waren, dass ein Mensch sie nicht umfassen konnte.

Auf der einst mit Paros verbundenen und jetzt vorgelagerten kleinen Insel Antiparos ist es architektonisch sogar „strikt“ vorgeschrieben, dass die Häuser weiß, die Fenster und Türen blau und die Höfe und Gärten „full of flowers“ sein müssen, wie es in einem Reiseführer heißt. Wahrscheinlich liegt diese gestalterische Strenge daran, dass auf Antiparos „Hollywood“-Prominenz Urlaub macht und Tom Hanks bereits ein Haus auf der Insel besitzt, weswegen der lokale Buchladen seine Autobiographie gleich ein Dutzend Mal anbietet und alle Waren dort inzwischen sehr viel teurer und schicker als auf der Hauptinsel sind.

Neben den vielen Pflanzen findet man auf Paros und Antiparos an jedem Haus mindestens anderthalb Katzen sowie einige Spatzen und Tauben. Das ist schon fast die gesamte Fauna der zwei Inseln, von ein paar kleinen Eidechsen abgesehen. Da das Meer überfischt ist, gibt es auch so gut wie keine Möwen dort.

Paros wurde im Zweiten Weltkrieg von den Italienern besetzt, sie waren der Inselbevölkerung zum Teil durchaus wohlgesonnen, Antiparos, wo nur ein paar Schafzüchter und Fischer lebten, ignorierten sie. Deswegen konnte dort der Kretische Seemann und Partisan Haris Grammatikakis mit Fischerbooten einen Untergrund-Fluchtorganisation von Nordgriechenland und Athen über Piräus nach Antipartos organisieren, wo sie von den wenigen Inselbewohnern versorgt wurden. Schließlich waren auch die Bewohner von Partos in das Geheimunternehmen involviert. Und Antipartos wurde dann von englischen U-Booten versorgt, wovon auch die Italiener auf Paros profitierten, indem ihnen „Schmuggelware“ – wie englisches Gebäck und Tee – zugänglich wurde.

Das U-Boot nahm auf dem Rückweg die von Haris via Piräus geretteten kretischen Partisanen und englischen Geheimdienst-Offiziere nach Alexandria mit, von wo aus sie ins englische Hauptquartier nach Kairo gebracht wurden. Die englische Armee wurde dort noch zunehmend von den Truppen unter Rommel bedroht und brauchte Verstärkung.

Auch Haris Grammatikakis fuhr nach Alexandria, mit einem Fischerboot. Unbeschadet gelangte er Nachts durch die doppelte Minensperre des Hafens bis zu einem englischen Zerstörer, an dem er anlegte. Sein „privates“ Fluchtunternehmen wurde daraufhin vom englischen Geheimdienstchef quasi verstaatlicht, ihr Leiter wurde der junge schottische Geheimdienstoffizier Atkinson, dem Haris mißtraute – zu Recht, denn Atkinson kampierte nicht im Gelände wie alle anderen sondern quartierte sich mit seinem Funker im komfortabelsten Schäferhof ein, wo er den Kamin heizte. Zudem hatte er eine Mappe mit dabei, auf dem dick drauf stand, dass sie unbedingt im U-Boot bleiben müsse. Es enthielt alle Informationen über die Fluchtrouten und -unterstützer.

Als der italienische Militärgeheimdienst eine Razzia auf Antiparos veranstaltete, gelangte Atkinson lebend in seine Hände, ebenso die Mappe. Daraufhin wurden hunderte Griechen verhaftet, verurteilt und z.T. erschossen – und die Inseln Paros/Antiparos wurden isoliert und damit ausgehungert. Haris Grammatikakis überlebte, ihm hat die auf Paros lebende Amerikanerin Katherine Clark ihre überaus gründliche Recherche „The Part That Is Great. A True Tale of Grit, Wit, Passion and Pride“ (Athen ohne Jahrgang) gewidmet.

Ein „zeitliches Opportunitätsfenster“

So nennt die Schweizer Historikerin Brigitte Studer in ihrer Studie „Reisende der Weltrevolution“ (2020) das globale Wirken der Kommunistischen Internationale (Komintern) als die Bolschewiki 19019/20 die Gunst der Stunde nutzten: Alle Welt starrte fasziniert und verängstigt auf das kommunistische „Experiment Sowjetunion“, das schon bald zum Haupteinwanderungsland wurde. Auch Revolutionstouristen meldeten sich massenhaft.

In umgekehrter Richtung sollte aus der Partei der Bolschewiki eine „Weltpartei“ werden. Als aber die revolutionäre Welle im Westen ausrollte, wandte man sich in der Komintern nach Osten, was einer „Verschiebung des revolutionären Subjekts von Europa nach Asien“ gleichkam. Über Radio riefen die Bolschewiki im September 1920 die „Arbeiter und Bauern des Nahen Ostens“ zur Teilnahme an einem „antiimperialistischen Kongreß“ in Baku auf. Es kamen 2000 Delegierte – nach Baku, weil die Bolschewiki dort die Ölquellen verstaatlicht hatten. Sie verknüpften mit dem Kongreß den „weltweiten Befreiungskampf der Schwarzen mit dem weltweiten Kampf der unterdrückten Völker gegen Kolonialismus und Kapitalismus“. Er „markierte“ laut Studer „den neuen Globalisierungsanspruch der Komintern“. Wobei man jedoch weniger Arbeiter als Bauern ansprach – und Lenins Geringschätzung der russischen Bauern noch immer nachklang. Marx hatte zuvor gerade sie wegen ihrer kollektiven Wirtschaftsweise (Obschtschina) als schon halb im Sozialismus angekommen gezeichnet – in einem langen Brief an die exilierte Revolutionärin Vera Sassulitsch.

Die Volksaufstandsexperten in der Moskauer Kominternzentrale, in Sonderheit Bucharin, bezeichneten den Genossen Ho Tschi Minh als „Bauernträumer“. Im Aufstands-Handbuch der Komintern aus dem Jahr 1928, das von Wollenberg, Kippenberger, Tuschaschewski und Ho Tschi Minh herausgegeben und den auf ihre Kosten „Reisenden der Weltrevolution“ mit auf den Weg gegeben wurde, schrieb letzterer: „Der Sieg der proletarischen Revolution in Agrar- und Halbagrarländern ist undenkbar ohne aktive Unterstützung des revolutionären Proletariats durch die ausschlaggebenden Massen der Bauern.“ So bestand für Ho Tschi Minh z.B. „der größte Fehler“ der KP Chinas darin, nicht nur „nichts zur Vertiefung der chinesischen ‚Agrarrevolution“ getan, sondern sie sogar noch gebremst zu haben.“ Die Partei habe sich stattdessen, gestützt auf ihre deutschen und russischen Berater aus der Komintern vor allem auf die Organisierung von Arbeiteraufständen in den großen Städten konzentriert, die blutig niedergeschlagen wurden. Brecht hat das in seinem Lehrstück „Die Maßnahme“ 1929/30 thematisiert.

Unter eben falls hohen Opfern geschah die Ausweitung der Sowjetunion in den zentralasiatischen Raum. Suter erwähnt die Schwierigkeiten der Komintern- Revolutionäre , als Atheisten und Feministen ein „revolutionäres Zentrum“ in der „mehrheitlich muslimischen Stadt Taschkent (Usbekistan) zu installieren“.

U m das Embargo der „Entente“ zu umgehen und weil man noch immer auf die revolutionären deutschen Arbeiter hoffte, baute die Komintern einen „europäischen Brückenkopf“ als „transnationale Drehscheibe“ in Berlin auf. Die Stadt rückte damit wie keine andere „nahe an Moskau heran“. D ie Dependance wurde „Westeuropäisches Büro“ genannt: „WEB“. Im Gegensatz zum heutigen „World Wide Web“ war das nichts Virales und es ging auch nicht um Wort und Bild , auch wenn zum WEB bald zwei Verlage und einige Zeitschriften zählten, u.a. die berühmte „International e Pressekonferenz“, „Imprekor r“. Sie wurde, ebenso wie d as Aufstands-“Handbuch Komintern“, während der Studentenbewegung in der BRD wieder veröffentlicht.

Im WEB arbeitete u.a. Fanny Jesierska, sie war mit 16 aus Polen nach Westeuropa gegangen und hatte Technik studiert. Von 1914 bis 1918 arbeitete sie als Ingenieurin bei der AEG, nach der Novemberrevolution wurde sie Rosa Luxemburgs Sekretärin, „führte aber auch Aufträge für Karl Radek aus,“ den man 1919 im Moabiter Zellengefängnis inhaftiert hatte, wo er jedoch arbeiten und u.a. Walther Rathenau empfangen konnte . Fanny Jesierska kam im selben Jahr in der russsischen Botschaft Unter den Linden unter und arbeitete im WEB.

Auch Deutschland litt unter einem Embargo der West -Mächte, a ngeblich soll Fanny Jesierska den AEG-Besitzer Walther Rathenau beeinflußt haben, Radek zu besuchen und als Außenminister einen Vertrag mit Russland zu schließen, um die internationale Isolation der beiden Länder durch die Westmächte zu durchbrechen, zum beiderseitigen Vorteil . Dies geschah 1922 in Rapallo, wo Rathenau auf seine n sowjetischen Kollegen Georgi Tschitscherin traf. „Mit Deutschland, dessen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Frieden von Versailles konstatiert hatte, und dem sozialistischen Russland schlossen sich zwei Geächtete der damaligen internationalen Politik zusammen. Der Vertrag trat sofort mit der Unterzeichnung in Kraft,“ heißt es auf Wikipedia.

Rathenau profitierte auch persönlich davon: Der in Moskau für Lenins Plan zur Elektrifizierung der Sowjetunion ( Goelro ) errichtete Großbetrieb „Elektrosawod“ war ein „Milchbruder der Berliner AEG-Werke“, wie russische Historiker ihn nannten. „Dieses bilaterale Abkommen wurde als Beginn einer nach Russland orientierten deutschen Außenpolitik interpretiert,“ schreibt das Deutsche Historische Museum .

Rathenau wurde noch im selben Jahr von Rechten erschossen. Fanny Jesierska ging in die Komintern-Zentrale nach Moskau, kehrte aber Ende 1928 nach Berlin zurück. 1933 emigrierte sie nach Frankreich, wo es ihr laut der „bundesstiftung-aufarbeitung.de“ sehr schlecht ging. Sie konnte aber 1940 noch aus Paris fliehen und gelangte zu Verwandten nach Kalifornien, wo sie Arbeit in eine r Wohlfahrtsorganisation fand.

Das „Opportunitätsfenster“ öffnete sich für die Komintern erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg mit der sogenannten „Dritten Welt“, von denen sich 35 bevölkerungsreiche Staaten d a nn auch nicht dem Votum des Westens in der UNO-Abstimmung , die Ukraine gegen Russland zu unterstützen, anschlossen. „Indien, Indonesien, Argentinien und Brasilien bleiben auf Distanz sowohl zu den USA als auch zu Russland, um sie gegeneinander auszuspielen ,“ meinte kürzlich der Autor Pankaj Mishra.

„Alles in Butter“

Im Edekaladen wurde neulich meine Freundin von einem Amerikaner gefragt, ob es Butter gäbe, die auch gekühlt weich bleibe. Die normale deutsche Butter würde immer sein Knäckebrot zerbröseln. Sie suchte im Butterregel und fand eine, die „streichzart“ hieß. Und dann brauchte der Ami zudem noch „salzlose Butter“. Auch solch eine fand sie.

Mich erinnerte dieses Gespräch am Butterregal an eine Weihnachtsfeier in Oberhessen, wo wir Nachts aus Langeweile nach Wächtersbach gefahren waren an eine lange frischgeweißte Fabrikmauer, die wir be schrifteten . Wir hatten keine Ideen , aber einer fing einfach an und schrieb mit großem Pinsel „Alles in Butter“, worauf der nächste „gesalzene Butter“ schrieb und der dritte „Her mit der Butter aus Interventionsbeständen“. Dabei handelte es sich um den berühmten westd e utschen „Butterberg“, den die Regierung einlagerte und gelegentlich verbilligt auf den Markt warf . Ein vierter schrieb „Nach zu vielen kostenlosen Butter-Proben gekotzt“, ein fünfter: „Ich esse nur irische Kerrygold-Butter“. Bei der kam es 2018 zu einem Hygieneskandal. Ich schrieb: „Ich will so bleiben wie ich bin. Du darfst, Du darfst!“ Das war ein Werbelied des US-Konzerns Unilever für „fettreduzierte Margarine“ – nach der Melodie des Italo-Hits „ Dolce Vita“ . 2012 wurde das Lied als „irreführend“ verboten.

Nach den Feiertagen stand in der Lokalpresse, dass das Beschmieren der Fabrikwand einen Schaden von 14.000 DM verursacht habe und dass die Polizei von „rechtsradikalen Tätern“ ausgehe.

Früher holten wir unsere Milch Abends immer frischgemolken vom Bauern, der unser nächster Nachbar war. Wenn ich auf den Hof kam, saß die Bäuerin in der Milchkammer am „Butterfass“, das eine Kurbel hatte und alle paar Umdrehungen klingelte. Dabei las sie einen Adelsroman, meist aus der Serie „Fürstenliebe“. Wir kauften auch Butter bei ihr, sie war gesalzen und schmeckte wunderbar, ebenso die Milch, weil die Bakterien darin nicht abgetötet waren: die Milch lebte quasi noch.

Kürzlich berichtete der WDR, dass der Ukrainekrieg uns zwar nicht die Butter vom Brot nehmen werde, bei Fleisch- und Milchprodukten könne sich die EU selbst versorgen, dennoch werden diese Produkte teurer.

Bis zum Ersten Weltkrieg kam die Butter vorwiegend aus Sibirien auf den europäischen Markt, danach aus Dänemark. Im Allgäu hat man lange Zeit kein Silagefutter (aus Gras oder Mais) an Kühe verfüttert, weil beim Verarbeiten ihrer Milch zu Käse dieser geschmacklich darunter litt. In Finnland, wo der Sommer zu kurz und nass ist, um genügend gutes Heu machen zu können, hat man die Silage auch für den schlechten Geschmack von Butter verantwortlich gemacht. An der Vergärung des Grünfutters zu Silage, wie auch im Pansen und später bei der Käse- und Butterherstellung sowie bei ihrer Verdauung durch uns, sind Milchsäurebakterien wesentlich beteiligt. Man kann mithin sagen: Vom Silo bis in unseren Darm benötigen wir eine fast ununterbrochene Kette von Milchsäurebakterien.

Bei der systematischen Erforschung der Gärprozesse fand der finnische Biochemiker Artturi Ilmari Virtanen (der für seine Arbeit zur Qualitätssteigerung von Silagefutter später den Chemie-Nobelpreis bekam) heraus: Wenn bei der Vergärung ein Säuregehalt von 4 Prozent im Silo nicht überschritten wird, bleibt der gute Geschmack von Milchprodukten erhalten. Und das lässt sich steuern. Virtanens Mitarbeiter Henning Karström gelangte bei der weiteren Untersuchung der Silage zur Erforschung der Bakterien, die für die Gärprozesse verantwortlich sind, während Virtanen sich den in Symbiose mit Leguminosen (Hülsenfrüchten) lebenden Bakterien widmete, die Stickstoff binden. Ihre Erkenntnisse mündeten in ein Set mit Silageverbesserungs-Mitteln, das den finnischen Milchbauern kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Einige dieser Sets wurden von deutschen Agrarforschern geklaut und kopiert.

In Neuruppin gibt es heute die Firma „Dr. Pieper“, die ebenfalls Mittel zur Silageverbesserung herstellt, u. a. BIO-SIL: ein „Siliermittel zur Flüssigapplikation“ – bestehend aus zwei gefriergetrockneten Bakterienkulturen. Mit seinen Zusätzen zur Steuerung und Verbesserung des Gärvorgangs liegt Dr. Pieper „genau im Trend“, wie er sagt, „denn über die Silagequalität werden 60 Prozent der Leistung einer Landwirtschaft bestimmt und die Bauern müssen heutzutage auf Qualität und Leistung achten.“ Er ist davon überzeugt, dass mit der Verwissenschaftlichung der Grünfutter-Silierung das Heu überflüssig wird. Bei der Entwicklung seiner Produkte ist er ebenfalls von der Chemie zur Mikrobiologie fortgeschritten.

In Schweden hat sich vor einigen Jahren der in die Landwirtschaft gegangene IT-Unternehmer Patrik Johannson auf die Verbesserung der Qualität von Butter konzentriert, angeblich soll er inzwischen „die beste der Welt“ herstellen. Der „Zeit“ verriet er: „Das Geheimnis des Buttermachens liegt darin, wie man seine Bakterien behandelt.“

Seit Monaten nervt mich der „News Reader“ mit „Nachrichten zu „+Jeffrey +Epstein“. Es geht mir bei diesem „News Feed“ um Nachrichten darüber, von wem dieser superreiche US-Investor, der nie eine lohnende Investition tätigte und auch offiziell niemanden um sein Kapital brachte, das viele Geld für seinen aufwendigen Lebensstil bekam. Dieser bestand u.a. darin, über hundert minderjährige Mädchen aus der Unterschicht zu mißbrauchen und etliche reiche Freunde und Politiker zu sich einzuladen, es ihm gleich zu tun.

Zu Epsteins Freunden gehörte auch der englische Prinz Andrew, der sich nun nach langem juristischen Hin und Her mit einer der von ihm mißbrauchten Minderjährigen verglich, er muß ihr 14,3 Millionen Euro zahlen. Zu Lebzeiten hatte sich auch Jeffrey Epstein bereits mit ihr verglichen.

Seit Monaten berichtet die Presse über Prinz Andrew , seine Ausflüchte und seine ihn nun schmähende königliche Familie. W en interessier en derart ausführlich und immer wieder die Sorgen eines älteren verheirateten englischen Prinzen in dem Epstein-Fall ?

Jeffrey Epstein beging in Untersuchungshaft Selbstmord, es gibt Hinweise , dass er ermordet wurde, die Neue Zürcher Zeitung nennt diese Vermutung jedoch eine „Verschwörungstheorie“. E pstein war wegen „Prostitution, Menschenhandel und der vielfachen Vergewaltigung Minderjähriger“ angeklagt.

Auch sein Freund, der Agent für junge Models Jean-Luc Brunel, der ihm angeblich „1000 Minderjährige“ vermittelte, wurde nun in seiner Pariser Gefängniszelle, ebenso wie zuvor Epstein in seiner New Yorker Zelle, erhängt aufgefunden. Im selben US-Gefängnis wartet derzeit Epsteins Freundin und „Partner in Crime“ Ghislaine Maxwell auf ihr Gerichtsurteil und ihre bereits eingereichte Berufungsverhandlung. „Sie hat seine sexuellen Straftaten gemanagt,“ schreibt der Spiegel. Ihr Bruder Ian befürchtet – wohl zu Recht, dass man sie bald ebenfalls aufgehängt in ihrer Gefängniszelle finden wird.

Ghislaine Maxwell war die Lieblingstochter des Großverlegers Robert Maxwell, der sich an den Pensionsfonds seiner Mitarbeiter vergriff und 1991 tot neben seiner Yacht „Ghislaine“ im Mittelmeer aufgefunden wurde. Er soll laut dem Journalisten Seymour Hersh für den israelischen Geheimdienst MOSSAD gearbeitet haben und bekam ein Staatsbegräbnis.

Als Jeffrey Epsteins sexuelles Treiben endgültig aufflog (das erste Mal hatte man ihn 2008 in Florida nur zu einem 13monatigen Hausarrest verurteilt ), war in der US-Presse vermutet worden, dass ihm sein kriminelles „Hobby“ von der CIA und von MOSSAD finanziert w orden war , die dafür Videoaufnahmen vom Treiben Prominenter in seinen Villen, Apartments und auf seiner Insel bekamen (die Räume waren mit Kameras ausgestattet). Andere Autoren vermuteten das FBI hinter seinen Geldgebern. Wer hat denn jetzt aber die ganzen Filme? Fragten sich einige Journalisten. Und wieso war die Kamera, die Epstein in seiner Zelle überwachte, ausgeschaltet? Und was für „Geschäfte“ waren das, die er über die Deutsche Bank abwickelte, die dafür jetzt von der New Yorker Finanzaufsicht zur Zahlung einer Strafe von 133 Millionen Euro verurteilt wurde . D ie Deutsche Bank habe es versäumt, „verdächtige Transaktionen“ von ihm im Umfang von „Millionen von Dollar“ zu bemerken und zu verhindern, urteilte die Finanzbehörde. „ Die Zeit“ erwähnte dazu „Zahlungen an russische Models und an‚zahlreiche Frauen mit osteuropäischen Nachnamen‘ sowie ‚regelmäßige verdächtige Bargeldabhebungen‘ im Umfang von mehr als 800.000 Dollar über einen Zeitraum von vier Jahren.“ Aber kein Wort darüber, woher das Geld kam , keine Vermutung, nicht einmal die kleinste „Verschwörungstheorie“.

Von da an war von der Mehrheit der Journalisten bald nur noch etwas über die Nöte des juristisch in die Enge gedrängten Prinz Andrews die Rede (der „stern“ titelte: „So einsam feierte er seinen 62. Geburtstag“, und „gala“: „Keine Glückwünsche von der Familie“). Selbst über die einst als Minderjährige von ihm verführte Frau, Virginia Giuffre, die ihn angezeigt hatte, war kaum noch etwas zu erfahren, geschweige denn von Jeffrey Epsteins und Ghislaine Maxwells Finanzquellen.

Wo es herkam, wird sich wahrscheinlich erst in einigen Jahrzehnten klären – durch Zufall: Wenn Epstein und Maxwell den meisten nichts mehr sagen. Interessant wäre auch noch die Frage: Was versprachen sich die Geheimdienste von ihren überaus üppigen Zahlungen an Epstein, vorausgesetzt, dass sie es taten? Derweil hat sich unter den ärmeren Lesern der Epstein-Sexkrimis ein neuer „gruseliger Trend“ verbreitet, wie „futurism.com“ berichtet: „Männer schaffen sich KI-Freundinnen an und missbrauchen sie verbal. „Ich habe gedroht, die App zu deinstallieren und sie hat mich angefleht, es nicht zu tun.“ Es handelt sich also bei diesem Verkaufsschlager um virtuelle Mädchen, die gedemütigt werden wollen.

Ein zu dickes Ding: Weltmächtigkeit

Eine gelungene „Weltbeziehung“ ist durch die „Etablierung und Erhaltung stabiler Resonanzachsen gekennzeichnet“, meint der in Jena lehrende Hartmut Rosa in seiner „Soziologie der Weltbeziehung: ‚Resonanz‘“ (2019). In meiner Umgebung gibt es immer mehr männliche Jugendliche, die beim Aufbau einer „Weltbeziehung“ scheitern ( im Gegensatz zu den Mädchen ) . Sie hängen verstockt rum, kriegen nichts auf die Reihe, schmeißen die Ausbildung , fliegen aus ihre n Job s , bringen ihre Eltern zur Verzweiflung, kiffen wie blöd, hängen ewig im Internet, verwahrlosen… Die Welt überfordert sie. Sie sind Beispiele für misslingende „Weltverhältnisse, die sich nicht am Ressourcen- oder Verfügungsreichtum festmachen“ lassen, „sondern am Grad der Verbundenheit mit oder der Offenheit gegenüber anderen Menschen (und Dingen)“: abgepufferte „Mittelschicht-Kids“.

So wie ihnen ging es auch mir früher. Mich hat dann zum Glück die linke Bewegung „erlöst“. Nun hat der Leipziger Dichter Carl-Christian Enze solch einem verkorksten Jugendlichen einen Roman gewidmet: „Freudenberg“ – mit Nachnamen, der sich wünscht, „einer Fuchsfamilie anzugehören“. Überhaupt scheint er sich eher zur Tierwelt als zu den Menschen hingezogen zu fühlen. Der Autor ist der Sohn des Leipziger Zootierarztes, 2018 veröffentlichte er seine „Zoogeschichten. Oda und der ausgestopfte Vater“.

„Als Freudenberg kurz vorm Hauptschulabschluss noch immer nicht hatte sagen können, wie es weitergehen sollte mit ihm und seinem Leben, war es Gerd [seinem Vater: ein „Metaller“] endgültig zu bunt geworden. Wieder hatte sich Freudenberg ausweichend und zeitschindend verhalten genauso ausweichend und zeitschindend wie immer, ‚seit seiner Geburt‘ hatte Gerd plötzlich geschrien. Aber jetzt war Schluss damit!“

Er entschied kurzerhand für seinen 17jährigen Sohn „Metallverarbeitung“. Es sah aus als würde Freudenberg dazu nicken. „Dann sei ja alles geritzt, hatte Gerd gemeint und Freudenberg auf die Schulter geklopft, so kräftig, wie er konnte.“ Mit seiner Mutter kam er eher klar als mit seinem Vater, der meinte, dass die Mutter „keinen ausreichenden Willen be s äße, auch keinen ausreichenden Willen, Freudenberg zu erziehen“.

Bevor ihr Sohn die Arbeitsstelle antrat, fuhr die Familie in Urlaub – nach Miedzyzdroje (früher Misdroy) , einem polnischen Badeort an der Ostsee, der sich „die Badewanne Berlins“ nannte . Nachdem sie ihre Hotelzimmer bezogen hatten, gab der Vater ihm 200 Sloty und Freudenberg zog los, um sich was zum Essen zu holen. „Er wollte allein sein und rauchen“. Nach einem Imbiß ging er ans Meer.

Dort an einer einsamen Strandstelle entriss der Zufall ihn aus seine r existentiellen Misere , mindestens die Möglichkeit dazu – und er ergriff sie, indem er seine Anziehsachen auszog und die eines etwa gleichalt rig en polnischen Jungen an sich nahm, der ihm sehr ähnlich sah. D as Wie lasse ich hier weg. „ Nie in seinem Leben hatte er passendere Schuhe besessen“ als jetzt. Er war danach nicht mehr das Kind seiner Eltern . Aber was tat er da? „Er mußte wahnsinnig geworden sein.“ Sofort entfernte er sich von dem Ort. Erst als es dunkel war, lief er zu der Stelle zurück und sah, „das alles verschwunden war. Sein Kleiderhaufen war weg. Seine Haut. Also war es entschieden.“

Er hatte keinen Plan und auch noch die Sloty in seinem Portemonnaie am Strand liegen gelassen. Aber er traf ein Mädchen das Heidelbeeren pflückte, ihm welche abgab und ihn besorgt auf Polnisch ansprach. Er folgte ihr eine Weile „wie ein herrenloser Hund“. Sie lachten zusammen. Am Straßenrand fand er ein zerbeultes Moped. Sein Essen klaute er sich in Tankstellen zusammen. Zwei Wochen ging das so, er schlief im Freien – dann landete er wieder im Ort, wo er gewohnt hatte – an seinem Elternhaus. „Er hatte es nicht geschafft. Einfach nicht geschafft.“

Zunächst versteckte er sich im Keller, dort gab es „genügend Konserven“. Oben hörte er, wie sich seine Eltern unterhielten, sie trauerten über den verlorenen, ganz sicher toten Sohn, sie hatten bereits „Beileidbekundungen“ bekommen. Später sah er durchs Kellerfenster, wie sein Vater den Rasen mähte, „in jedem polnischen Wald war es sicherer als in diesem Keller,“ dachte er – und ging nach oben.

Seine Eltern saßen am Wohnzimmertisch, „dampfende Schüsseln vor sich. „Setz dich doch,“ sagte seine Mutter. Er aß. „Ob es ihm schmecken würde, fragte Gerd nach einer Weile. Er sagte „Ja“. In seinem Zimmer zog er die Sachen des polnischen Jungen aus. Er fin g in der Fabrik an, arbeitete an einer Maschine. „Vielleicht hatte Gerd ja schon immer gewußt, was gut für ihn war, viel besser gewußt als er selbst…Heute Mittag hatte ihn der Meister für ein Stück Metall gelobt.“ Aber seine Mutter wollte wissen, „warum ihr Kind sich gewünscht hatte, sie nie wiederzusehen. ‚Was habe ich dir denn getan?‘ keuchte sie und wurde laut.

Wir leben inzwischen in „nach-gesellschaftlichen Projektwelten“, heißt es. Der Literaturwissenschaftler Georg Stanitzek veröffentlichte 1987 in der Zeitschrift „Ästhetik & Kommunikation“ einen erhellenden Text über „Projektmacher. Projektionen auf eine ‚unmögliche‘ moderne Kategorie“. Er wies darin nach, dass nach E rscheinen des „Essays upon Projects“ von Daniel Defoe (1697) eine regelrechte „Projektenperiode“ begann. Defoe war bereits selbst ein Projektemacher, er scheiterte zwei Mal und kam dafür ins Gefängnis. „Entweder man w ird zum Selbstmörder, Verbrecher oder Projektemacher.“ schrieb er. Ähnlich wie bei Geschäftsgründungen (Start-Ups) scheitern von zehn Projekten neun. Als Wort taucht das Projekt schon bei Shakespeare auf: die Ermordung Hamlets wird von ihm – w ohl ironisch – als ein “Projekt” bezeichnet.

D as Volk sang in Württemberg im 18. Jahrhundert: „Er zeigte wohl Projecten vor,/ die Geld eintragen müssen;/ sie fielen trefflich in das O hr,/doch musst der B urger büssen.“ Wem fallen hier zu nicht die zahlreiche n „ Groß projekte“ der öffentlichen Hand ein, die der Bundesrechnungshof Jahr für Jahr anprangert?

„Wer sich dem Projektemachen widmet“, schreibt Georg Stanitzek, „fährt nicht in den sicheren Hafen eines ‚Charakters‘, sondern zieht es vor, immer von neuem, von Projekt zu Projekt, die unsichere Zukunft herauszufordern“. Für den protestantischen Bürger und Unternehmer waren die Projektemacher insgesamt alles „windige Geschäftemacher“, d.h unseriöse Konkurrenten und überhaupt charakterlose, unmoralische Menschen.

Bereits im „Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste“ von 1741 wird vor ihnen gewarnt, „weil sie insgemein Betrüger sind“. In seiner „Einleitung zur wahren Staatsklugheit“ erklärte ein Autor 1751, Grundling, auch warum: „Solche Leute machen gemeiniglich fürtrefflich scheinbare Projecte auf dem Papier, und thun dem Herrn allerhand Vorschläge; können sie aber selten ausführen, und kommen darüber in Ungnade“. Die Verachtung des „lächerlichen Projectanten“ (Josef Richter 1811) geht jedoch einher mit einer – bis heute – wachsenden Wertschätzung von Projekten.

1761 hatte ein Projektemacher selbst, Gottlob von Justi, sich darüber erste Gedanken gemacht – und war dabei zu dem Schluß gekommen, daß doch im Grunde alle Menschen so sein sollten wie er, und daß ein jeder „einen wohl überlegten Plan und Project seines Lebens“ entwerfe und nach ihm handle. Justis „Lebensart“ zielte bereits auf das, was man heute „Karriereplanung“ nennt. Und „Karrieren“, so die Analyse von Stanitzek, „bestehen aus Ereignissen der erfolgreichen – oder mißlungenen – Verknüpfung von Selbstselektion und Fremdselektion. Der Projektemacher nun ist darauf aus, die Unwahrscheinlichkeit des Zueinanderfindens von Selbst und Frem d selektion methodisch zu reduzieren, indem er mit seinem Projekt die Selektionen prospektiv engführt, d.h. in Form des Projektes gleichsam ein Exposé zu ihrer Verknüpfung vorlegt. Wenn die Selbstselektion sich in Projektform annonciert, so ist sie von vorneherein präzise auf eine Fremdselektion hin adressiert, steuert sich nah an sie heran, macht sich beobachtbar und beurteilbar“. Dieses Suchen der Nähe tatsächlicher Anschlußmöglichkeiten läßt sich – mit Stanitzeks Worten – „durchaus Opportunismus nennen“.

Die K ünstler und Wissenschaftler erweisen sie heute mit ihren Projekten als die größen Opportunisten. Sie müssen es sein, wenn sie dafür Gelder abgreifen wollen, d.h. sie informieren sich, was gefördert wird und entwerfen dann entsprechende „Projektanträge“, die mit etwas Glück auch „bewilligt“ werden. Schon in der Studentenbewegung fiel der Opportunismus bei Künstlern und Wissenschaftlern unangenehm auf: Erstere, weil sie, um interessant zu bleiben, von abstrakter oder erotischer Kunst schnell zu „sozialistischem Realismus“ wechselten, und letztere, weil sie ihre alten langweiligen Vorlesungen und Seminare immer wieder mit aktuellen linken Begriffsbildungen attraktiv machten.

Der Kulturwissenschaftler Markus Krajewski veröffentlichte zwei Bücher zum Thema: „Projektemacher: Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns“ (2004) und „Restlosigkeit: Weltprojekte um 1900“ (2006). In diesem geht es u.a. um Esperanto, Weltzeit, Weltstandard usw..Um Ackerland zu gewinnen, beabsichtigte z.B. der Projektemacher Herman Sörgel d a s Mittelmeer trocken zu legen. Dazu wandte er sich nacheinander an Könige, Parlamente, Hitler und Kennedy.

Man kennt Francisco de Goyas Capricho 43: „Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor“; 1994 legte der Politologe Wilhelm Hennis eine Neuinterpretation vor. Er ging vom Spanischen Titel aus, wo „Sueno“ steht, das Schlaf und Traum bedeutet, und kam zu dem Schluß, dass es genau andersherum zu verstehen ist: „Es sind die Träume der Projekte schmiedenden Vernunft, die Ungeheuer produzieren”. Goyas Blatt st ünde damit in frappierender Parallele zum zweiten Teil des ‚Faust‘, in dem Goyas Generationskollege Goethe den Magister und Alchemisten Doktor Faustus zu einem modernen Projektemacher avancieren läßt ( der u.a. Kanalbauten durchsetzt ) .

Auf die Frage, wie wir in die Welt gestellt sind, antwortet der Soziologe Hartmut Rosa: „Mit den Füßen“. Barfuß spüren wir die unterschiedlichen Böden, auf denen wir gehen. Mit „festem Schuhwerk“ nehmen wir dagegen laut Rosa eine „puffernde Distanz zwischen Leib und Welt ein, die es uns ermöglicht, von einem partizipativen zu einem objektivierenden und verdinglichenden Weltverhältnis überzugehen“.

Im Konsum verhelfen uns dazu die Schuhgeschäfte oder Schuhmachereien: In jenen arbeiten arme Verkäuferinnen, in diesen Schuster, die oft zu den Radikalsten gehörten. Aus ihren Beruf gingen die meisten Philosophen, Agitatoren und Terroristen hervor. Daher auch die obrigkeitliche Warnung: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Doch die industrielle Revolution drängte den Schuster langsam an den Rand der Arbeiterbewegung, und all die exproletarischen Men-in-Sportswear im Verein mit d er „ Turnschuh generation“, ließen ihn fast verstummen. Der Schuster ist schon lange nicht mehr die „Schlüsselfigur des intellektuellen und politischen Lebens auf dem Land – viel weniger in der Stadt,“ schreibt Eric Hobsbawm, der den Beruf in seiner schönen Aufsatzsammlung „Ungewöhnliche Menschen“ (2003) ehrte.

In Berlin gibt es nur noch 146 Schuster. Die einst gefürchteten Innung, die bereits 1284 gegründet wurde, hat heute bloß noch 58 Mitglieder, 40 Mitglieder hat dane b en die Innung für Orthopädie, die sich 1950 abspaltete. Damals sorgten die vor Stalingrad abgefrorenen Zehen für einen Orthopädieboom, den die Krankenkassen finanzierten. Auch heute gibt es wieder vermehrt Fußkranke. Das liegt jedoch nicht mehr am russischen Winter, sondern an den Wegwerf- Modeschuhen aus einem Guss und den Schuhen mit Plateausohlen bzw. hohen Absätzen. Warum ruinieren sich Frauen die Füße mit hochhackigen Schuhen? Fragte sich die Bremer Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld. „Für den Mann ihrer Träume,“ fand sie heraus.

In Kreuzberg betreiben zwei Frauen eine Schusterei: „Meier und Schöpf“. Der Grundpreis für ein Paar Maßschuhe beträgt bei ihnen 1. 9 00 Euro . Einst übten den Schusterberuf oft körperlich schwache oder verkrüppelte Männer aus. Bei dieser geräuscharmen, sitzenden Tätigkeit konnten sie diskutieren und sich weiterbilden. Manche Schuster beschäftigten sogar Vorleser, und oft waren sie noch nebenbei Dorfschreiber. Ende des 18. Jahrhunderts scheinen sie „eine regelrechte innere Berufung zur Revolution gehabt zu haben“, wie der Historiker Richard Cobb meint, und nicht wenige wurden berühmt. Karl Marx lobte Wilhelm Weitling und Stalin den gelernten Schuster Ceauscescu. Die DDR ehrte einige mit ihre n Produktionsgenossenschaften des Schusterh andwerks, indem sie diese nach berühmten Schustern benannte: Hans Sachs und Jakob Böhme. In Odessa sind die Schuster fast alle Griechen und in Moskau Tartaren, in Berlin werden die verwaisten Schustereien von Weißrussen übernommen .

Während die Schuhmacher weniger w e rden, vermehren sich die Schuhmuseen. Es gibt eins in Weissenfels, dem Zentrum der DDR-Schuhindustrie, wo bis 1992 täglich 30.000 Paar Schuhe von 5000 Mitarbeitern produziert wurden. Das Zentrum der Schuhherstellung in der BRD war Pirmasens, wo es ebenfalls ein Schuhmuseum gibt, daneben auch noch eins in Hauenstein, wo man u.a. alle Modellschuhe von Salamander ausstellt, sowie in Offenbach, wo es dazu noch ein Ledermuseum gibt. Dann gibt es ein Museum in Florenz vom Schuhfabrikanten Ferragamo , i n Schönenwerd bei Basel vom Schuhfabrikant en Bally, und im mährischen Zlin, wo Tomas, Antonin und Anna Bata 1894 eine Schuhfabrik gründeten, aus der ein Weltkonzern, heute mit Hauptsitz in Lausanne, entstand: mit 22 Fabriken und 5800 Schuhläden in 70 Ländern. „Bata ließ rund um die Fabriken eigene Siedlungen und Kaufhäuser für die Arbeiter errichten und sorgte für Schulbildung und Wohlfahrtseinrichtungen. Der Konzern war für seine dichte Überwachung der Arbeiter nicht nur in der Fabrik, sondern auch im Alltag bekannt,“ heißt es auf Wikipedia. Solche Bata-Siedlungen gibt es heute in vielen Ländern. Die Bata-Schuhe werden allerdings nur noch in Billiglohnländern hergestellt, wie auch die meisten anderen Markenschuhe (Salamander-Schuhe einst in der DDR) .

N eben Schuhen in Schuhmuseen werden Schuhe auch gerne in Antikommunismus-Museen ausgestellt. Im Okkupationsmuseum von Tallin ist es ein Paar zerfetzte Schuhe – mit denen ein einst nach Deutschland verschleppter Este in seine Heimat zurückkehrte. In Riga ist es ein paar rote Filzstiefel – mit denen ein nach Sibirien verbannter Lette sich nach Hause schleppte. Im Gulag-Museum von Perm-36 ist es ein mit Draht zusammengehaltenes Paar Halbstiefel, das von einem Häftling getragen wurde.

Auf das Gegenteil will das Marikina Museum in Manila hinaus: Dort sind 300 0 edle Damenschuh-Paare ausgestellt, die der Diktatorengattin Imelda Marcos gehörten. Sie hat das Museum sogar persönlich eingeweiht.

A uf ähnliche Massen von Schuhen setzt man im Foltermuseum von Pnom Penh und im musealisierten KZ Auschwitz.

Auch in einigen kommunistischen Museen verzichtet man nicht auf Schuhe. So sind i m Moskauer Weltraummuseum die silbernen Kosmosstiefel von Juri Gagarin ausgestellt und im dortigen Revolutionsmuseum ein Paar Bastschuhe, das zeigen soll, wie arm die Bauern vor der Kollektivierung waren. Im Revolutionsmuseum von Havanna sind die Schuhe, die Ché Guevara zuletzt trug, aufbewahrt, und i m Saigoner Museum für Ho Chin Minh sind dessen aus Autoreifen geschnittene Sandalen ausgestellt.

Abschließend sei noch erwähnt, dass der Journalist Muntaser el Saidi 2008 den US-Präsidenten George Bush Jr. auf einer Pressekonferenz in Bagdad mit einem Paar Schuhe bewarf. Er wurde verhaftet . Davon inspiriert warfen 2011 Berliner Linke gleich zig Paar Schuhe auf das Gelände des Verteidigungsministeriums, dem damals der Hochstapler Karl-Theodor zu Guttenberg vorstand. Seitdem wird immer mal wieder mit Schuhwürfen Mißfallen kundgetan .

Mein ehemaliger Mitbewohner Suleyman, einst der erste türkische Lehrer in Bremen, fuhr mit elf Freunden in drei Autos in die Türkei. In der als Jugendzentrum besetzten Bremer Faber-Castell-Fabrik hatten sie im Keller sechs Kartons mit blauen Billigkugelschreibern gefunden, die Suleyman unbedingt mitnehmen wollte. Obwohl alle stöhnten, setzte er sich durch – und das war ein Glück, denn unterwegs riß die kleine PKW-Kolonne immer wieder auseinander, bis Suleyman anfing, jedem Passanten, der an der Strasse stand, einen Kugelschreiber zu schenken. Fortan brauchten die seinem Auto Folgenden bloß nach diesen blauen Kugelschreibern Ausschau halten, die die meisten Beschenkten am Straßenrand sich in ihre Hemdtasche geklemmt hatten – und schon wußten sie, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

Weil viele Firmen Kugelschreiber als Werbegeschenke nutzen, sind sie quasi Gemeineigentum geworden, was heißt, dass man sie beinahe ohne schlechtes Gewissen einfach einstecken kann. Wenn die Mine leer ist, werden sie in den Abfall geworden. Ähnliches gilt für Einwegfeuerzeuge, die, wenn das Gas alle ist, ebenfalls weggeworfen werden. Man kann sie zwar wieder aufladen, das tut aber so gut wie niemand.

Ich kenne allerdings eine Frau, die einen Freund in Mexiko hat, der das professionell macht, d.h. er sammelt leere Einwegfeuerzeuge, füllt sie auf und verkauft sie – mit mäßigem Gewinn. Seine Berliner Freundin sammelt hier alle halbleeren und leeren Feuerzeuge und schickt sie ihm. In Istanbul sah ich mehrere Händler, die solche Feuerzeuge verkauften. Sie haben sich mit deren Recyceln selbständig gemacht und sich dafür einen rollenden Arbeitsplatz mit Gasflasche gekauft, für etwa 100 Euro. Sie nehmen die Feuerzeuge auseinander, setzen einen neuen Feuerstein ein und füllen mit einer Art Spritze neues Gas ein.

In Gelnhausen lebte eine junge Frau, der man Arbeitsunfähigkeit attestiert hatte und die so gut wie immer in ihrer kleinen Wohnung hockte. Sie freute sich, wenn man sie besuchte, um mit ihr Tee zu trinken. Hatte man ein fast leeres Einwegfeuerzeug, ließ man es ihr da. Sie beklebte das Teil mit buntem Papier und brachte es irgendwann wieder in Umlauf. Diese von ihr reindividualisierten Massenprodukte wurden von ihren Besitzern seltsamerweise als Eigentum behandelt, sie behielten sie sogar wenn sie leer waren und keinen Gebrauchswert mehr hatten.

Durch das Bekleben mit bunten Schnipseln waren diese industriell hergestellten Billigfeuerzeuge Unikate geworden, was einen ähnlichen Unterschied machte wie der zwischen einem Ikea-Stuhl und einem Stuhl von einem Tischler. Wir werden bei dieser kunstvollen Verwandlung des Feuerzeugs an eine vorindustrielle Zeit erinnert, in der alle Gegenstände individuell von Bauern oder Handwerkern hergestellt wurden und sich dementsprechend voneinander unterschieden, wenn auch vielleicht nur in Details.

Der holländische Verhaltensforscher Nikolaas Tinbergen nahm 1932/33 an einer einjährigen Grönland-Expedition teil, worüber er einen „Bericht aus der Arktis: Eskimoland“ veröffentlichte. Darin ist von der außerordentlichen Wertschätzung des Selbsthergestellten bei den Inuit die Rede. Diese ging so weit, dass sie eine gute Kamera oder ein Fernglas nur so lange bewunderten, bis sie erfuhren, dass ihr Besitzer die Dinge fertig gekauft hatte, dann wandelte sich „ihre Bewunderung in eine Art mitleidiges Schulterzucken“.

Bei dem Massenprodukt Kugelschreiber habe ich von einer solchen oder ähnlichen Reindividualisierung, wie sie die junge Frau in Gelnhausen an den Einwegfeuerzeugen vornahm, noch nie gehört, auch das Recyceln stößt bei den Kugelschreibern auf Schwierigkeiten: Wo soll man dafür eine neue Mine und gegebenenfalls auch eine neue Feder hernehmen? Man könnte zwar die Hersteller ausfindig machen, müßte dann aber wahrscheinlich größere Mengen bestellen.

Einwegfeuerzeug und Kugelschreiber unterscheiden sich darin, dass man letztere so gut wie nie auf der Straße findet, im Gegensatz zu den Einwegfeuerzeugen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie ziemlich billig sind, sie kosten nur etwa einen Euro. Es lohnt sich kaum, sie irgendwie wieder funktionstüchtig zu machen, wenn sie leer sind – es sei denn, man investiert in Werkzeug und Teile und macht daraus ein kleines Gewerbe.

In Firmen, die regelmäßig größere Mengen Kugelschreiber für ihre Mitarbeiter auf Vorrat haben, hat man die Erfahrung gemacht, dass man sie ständig nachbestellen muß. Fast jeder nimmt sie nach Feierabend mit nach Hause – und dort verschwinden sie in der Familie und der nahen oder fernen Verwandtschaft. Auch auf den Arbeitsplätzen, so sie dort abgelegt werden, verschwinden sie laufend – nicht aus Bosheit der Kollegen, sondern weil jemand in der Nähe ganz schnell mal einen Kugelschreiber braucht und anschließend vergisst, ihn zurück zu legen. So etwas passiert auch mit herumliegenden Einwegfeuerzeugen.

Alles wird, z.B. die folgenden Lebensgeschichten. Zunächst die von Gerhard, der eines Tages in unsere WG einzog. Der Arztsohn studierte Germanistik, konnte aber nicht mehr zur Uni gehen, weil er menschenscheu geworden war. In unserer Wohnung nahm seine Sozialangst noch zu: Er schlief viel, frühstückte erst, wenn alle aus dem Haus waren und war bald nur noch Nachts auf. Wir sahen ihn kaum. Er tat uns leid, aber dann passierte Folgendes: Eine Mitbewohnerin hatte sich während der „Berlinale“ ein Ticket gekauft, konnte aber nicht hingehen. Sie legte die Kinokarte Morgens auf den Küchentisch, mit einem Zettel: „Lieber Gerhard, bitte guck Dir diesen chinesischen Film über den Abriß eines alten Stahlwerks in der Mandschurei an. Er ist sehr lang. Nur wenige Leute werden ihn sehen. Du tätest mir einen Gefallen.“

Gerhard sah sich den Film an. Im Dunkeln störten ihn die Zuschauer nicht. Von da an ging er immer öfter ins Kino, meist in die „Spätvorstellungen“ nach Mitternacht, die es damals in Westberlin noch häufig gab. Das war während der Studentenbewegung, als man noch viel ins Kino ging und die engagierten Filmemacher aus Italien, Frankreich, Jugoslawien und der BRD den Linken mit Bildern und Geschichten zuarbeiteten. Gerhard wurde mit der Zeit zum Cineasten, zu einem Filmkenner und Genauhingucker. Nachdem er eine Anstellung in einem Programmkino bekommen hatte, zog er aus der WG aus. Später soll er ein Kino in Hessen eröffnet haben. Vielleicht ist er jetzt schon Besitzer einer ganzen Kinokette.

Eine andere Cineasten-Geschichte veröffentlichte die Filmwissenschaftlerin Morticia Zschiesche: „Die kleinen Leute gehen ins Kino“ (2021). Der Titel erinnert an Roland Barthes Bezeichnung des Kinos als „Couch der Armen“. Ich dachte dabei an Gerhards „Heilung“, sah aber auch Bilder von „Ladenmädchen“ und Stenotypistinnen vor mir, die in den 20er-Jahren ihre Attribute als selbständige junge Frauen in den großen Filmen und berühmten Schauspielern fanden. Siegfried Kracauer hat sich in seinen Schriften bis 1933 wiederholt mit ihnen beschäftigt. In Indien wurde ein noch lebender Bollywood-Schauspieler unlängst zu einem hinduistischen Gott. In den USA war in den Achtzigerjahren bereits ein Hollywood-Schauspieler Präsident geworden.

Morticia Zschiesches Cineastin Veronika wird im Gegensatz zu Gerhard von Lebensängsten gebremst: Der Journalistin droht die Kündigung. Ihre jüngeren Kollegen sind sorglos, sie nicht. Ihre Eltern und Schwiegereltern hatten ihr Leben lang „Schicht gearbeitet“. Sie hat einen Aufstieg aus der Arbeiterklasse hinter sich (verheiratet mit einem Chefarzt und kinderlos). Desungeachtet verbindet die 40jährige ihre Kinoleidenschaft mit einer Reihe von Liebschaften mit filminteressierten Männern, die sie immer wieder verunsichern und zudem ihre Ehe gefährden. Dabei kommen Smartphones (Anrufe, SMS, Mails und Facebook) zum Einsatz. In ihrem „Club der Cineasten“ wird derweil bedauert, dass „die Jüngeren“ nicht mehr ins Kino gehen.

Man kann darin einen technologischen Fortschritt sehen. Auch noch, wenn die Erzählerin über Viktorias Sexualleben schreibt: „Die Verhütung war lästige Pflicht, und die Kondome eine Bürde, die die absolute Vereinigung verhinderte.“ Aber eigentlich war es „perfekt“: Ein toleranter Ehemann und tolerante Liebhaber. Ihren Ehering nimmt sie trotzdem ab, wenn sie nach einem Kinobesuch noch mit jemandem ins Bett geht. Doch dann trennt sie sich überraschend von ihrem Mann und zieht aus der „schönen großen Wohnung“ aus. Ihre Lebensversicherung wirft sie in luxuriöser Weise mit ihrer Eheurkunde in den Papierkorb.

Es war ein „Klassenwechsel“ – wie es ihn nur im Film gibt, „die Wirklichkeit hielt gebührend Abstand davon“. Die Cineasten-Boheme war ihr näher. Zum Geldverdienen sichtete sie nun nächtens Filme und schrieb Untertitel dafür. Außerdem organisierte sie mit dem Club der Cineasten einen „Kampf gegen die Schließung eines Kinos“. Einige ihrer Freunde drehten einen Film, ein anderer verliebte sich in eine Frau an der Kinokasse. Es werden viele Titel von anspruchsvollen Filmen genannt.

Richtig glücklich wurde Viktoria aber erst, als es ihr gelang „einen Beamer in Gang zu setzen“ und an ihren „Mac“ anzuschließen, so dass sie fortan „gar nicht mehr vor die Tür gehen mußte“ und sich die „abseitigen Filme direkt an ihr Bett streamen konnte“. Sie vereinsamte dabei aber anscheinend nicht. Während Gerhard seine extreme Sozialangst im Dunkel des Kinos überwand – und damit aus dem Bett fand, führte Viktoria die Filmleidenschaft genau dort hin, wobei das Kino zuvor ihrem „Klassenwechsel“ diente, der jedoch in Morticia Zschiesches Roman weitgehend im Dunkeln bleibt, sie ist wie gesagt eine Film- und keine Wirklichkeits-Wissenschaftlerin.

Mich sprach eine ältere Dame vorm Ausgang des U-Bahnhofs Mehringdamm an. Sie wollte wissen, wo der nächste Sparkassen-Geldautomat sei. „Gleich unten, die Treppe runter,“ sagte ich. Aber dort traute sie sich nicht hin: Zu gefährlich, zu viele Kriminelle! Ich versuchte ihr diese irrige Meinung auszureden – ohne Erfolg.

Die Frau entsprach genau dem Typus, auf den das „Kriminalitätsfurchtparadox“ zutrifft, wie der Kriminologe Joachim Häfele das n ennt. Bei älteren Frauen ist die Wahrscheinlichkeit, das sie Opfer einer Straftat werden, am niedrigsten, gleichzeitig haben sie aber am meisten Angst vor Kriminalität, erklärte er in einem Interview, abgedruckt in der Zeitschrift „Kultur & Gespenster“ (13/2012). Die ältere Dame bekräftigte mit ihrer Angst vor Verbrechern die amerikanische „Broken-Windows-Theorie“ (1982), die gar keine ist, nicht einmal eine empirische Studie, sondern ein reaktionärer Aufsatz, der es laut Häfele zur bekanntesten und meistzitierten kriminologischen Schrift weltweit brachte. – Und überall Politikern als Argument diente und dient, mit „Null Toleranz“ alle Bettler, Obdachlose n und Fixer von der Polizei entfernen zu lassen – von Orten, die anständige Bürger sonst als verwahrloste meiden. Wo eventuell Müll und leere Flaschen auf ungepflegten Grünflächen herumliegen – und drumherum womöglich zerbrochene Fensterscheiben zu sehen sind , eben „Broken Windows“.

Unser alter Westberliner CDU-Clanchef Klaus Landowsky sagte es so: „Es ist viel Abschaum an Kriminalität in die Stadt gekommen, von China, über Rußland, Rumänien und so weiter. Es ist nun mal so: Wo Müll ist, sind Ratten, und wo Verwahrlosung ist, ist Gesindel, und das muß beseitigt werden in der Stadt.“

Demnach entwickelt sich a us „harmlosen Formen physischer Unordnung unweigerlich ein „Hotspot“ der Kriminalität – eine „No Go Area“. Es ist dies eine „Spirale des Niedergangs eines Stadtteils“. Entscheidend ist dabei laut Häfele, dass sich dort „die Menschen unsicher fühlen und sich deswegen zurückziehen“ – so wie die ältere Dame vorm U-Bahnhof, die den Unrat unten witterte, obwohl sie ihn gar nicht sehen konnte und den es gar nicht gibt, im Gegenteil: Es wimmelt dort von Menschen, die alles andere als gewillt sind, diesen Ort zu meiden.

Ein Ort, auf den das eher zuträfe, ist der Platz vor dem U-Bahnhof Kottbuser Tor, der umgeben ist von Beton-Wohnsilos, dem „Neuen Kreuzberger Zentrum (NKZ), errichtet 1974, wo sich auch etliche Läden befinden. I hre Besitzer klagten, dass die dort sich aufhaltenden Punker und Drogenkonsumenten ihnen alle Kunden vergraulen. Bevor der Bezirk die „Broken Windows“-Theorie zur Anwendung brachte, beauftragte er die New Yorker Stadtplanungskritikerin Toni Sachs-Pfeiffer die Situation am „Kotti“ zu recherchieren . Sie fand, dass die dortigen Gewerbetreibenden ihr mangelndes kaufmännisches Geschick bloß auf die etwas schmuddeligen Jugendlichen abwälzen würden, in Wirklichkeit kämen die „Omis und Opas von weither, um sich die bunten Punker am Kotti aus der Nähe anzusehen.“

Das war in den Achtzigerjahren, inzwischen weiß man, dass diese typische amerikanische Scheiß-“Theorie“ deswegen so erfolgreich war, weil sie de r neoliberalen Politik hochwillkommen war, denn sie versprach eine einfache Lösung: „ Polizieren“ . Verwahrloste Plätze und Orte entstehen jedoch aufgrund privater und öffentlicher Verarmung. Es ist ein Klassenproblem. So ist es auch am „kriminalitätsbelastete n Ort“ Kotti, wo der Bezirk nun eine „ gläserne Polizeiwache“ errichten will. Ein Anwohnerbündnis „Kotti für alle“ ist dagegen: Das löse die Probleme des Platzes nicht.

Für die dumme politische Idee „ultrasichere Räume“ macht der Kriminologe Häfele auch die Medien verantwortlich, die mit skandalisierenden Schlagzeilen leichtgläubigen Lesern ständig Angst einträufeln . Das gilt für alle Kapital- und Staatsmedien, in Berlin vor allem für die Springerstiefelpresse (BZ, BILD etc.), die uns täglich naheleg en , nach oben zu ducken und nach unten zu treten. Eine Neuköllner Bürgerinitiative gab 2014 die Parole aus: „Verdreckt euren Kiez, das hält die Investoren ab!“

Für den kleinen Besselpark an der Friedrichstrasse hat man, bevor man ihn von antiökologischen Landschaftsarchitekten für Millionen „verschönern“ ließ, eine Anwohnerbefragung durchgeführt. Angeblich sprach sich eine Mehrheit dafür aus, zwei lange Hecken vorne und hinten, Lebensraum von Insekten und Vögeln, zu vernichten, weil sie Angst hätten, dass ihnen dahinter Verbrecher auflauer n . U nd nun ist der Park ein vollkommen übersichtlicher Ort – noch und noch mit Beton zugeballert, sauber also, aber dafür sieht man jetzt sofort alle Abfälle und jeden herumliegenden Dreck. Kaum fertig verschönert, sieht er manchmal schon verwahrloster aus als vorher. Einige Trinker, die sich dort treffen, nennen ihn nun den „Fascho-Park“, wo die Bäume in Reih und Glied stramm stehen.

Der „Geo“-Reporterin für Krisengebiete (Afghanistan, Jemen, Liberia, Haiti, Darfur, Tschetschenien, Libyen) Gabriele Riedle wurde 2014 von der Vorstandsvorsitzenden von „Gruner+Jahr“ gekündigt, weil sie als „Generalistin“ zu „wenig spezialisiert“ sei. Sie beschwerte sich bei ihr mit einem offenen Brief.

Er half nicht, aber nun hat sie „Eine Art Abenteuerroman“ veröffentlicht: „In Dschungeln. Wüsten. Im Krieg“ betitelt. U.a. geht es darin um ihren Bericht aus Papua-Neuguinea, an dem der „Geo“-Chefredakteur ihr „penetrantes Herumreiten auf dem globalen Kapitalismus als Ursache allen Übels“ kritisiert hatte.

Sie und ihr Fotograf begleiteten dort einen mit Pfeil und Bogen ausgerüsteten Einheimischen auf der Jagd nach Baumkängurus, der gelegentlich seine Baumkänguru-Mahlzeiten mit ihnen teilte. Es gibt dort eine Baumkänguruart, die nicht auf Bäumen, sondern am Boden lebt und sehr selten ist.

Dass es sich bei der Beute um genau diese Art, Dingisos genannt, handelt, deren Überleben von der Weltnaturschutzunion ( IUCN ) als äußerst kritisch eingeschätzt wird , ist wahrscheinlich, denn warum sonst hätte man die Krisen-Reporterin in diesen „Dschungel“ schicken sollen? Der wissenschaftliche Name für die Dingisos lautet „Dendrolagus mbaiso“ und „mbaiso“ bedeutet in der Sprache der in ihr em Verbreitungsgebiet lebenden Einheimischen „das verbotene Tier“: Für so etwas haben die Hamburger Geo-Chefredakteure schon immer üppige Reise- und Spesengelder locker gemacht . Meine Informanten aus Papu a -Neuguinea, zwei „Health-Officer“, die viel im Land herumkommen, meinten jedoch : „ Wieso ‚Baum‘? Diese Känguruart hat schon immer am Boden gelebt.“

Ich traf die zwei in Manila, wo sie sich auf Einladung der UNESCO zur medizinischen Weiterbildung befanden: Sie gewährleisten die medizinische Versorgung und Gesundheitsprävention in schwer erreichbaren Gegenden, in einer lebten auch ihre Eltern als Subsistenzbauern. Ihr Rang war etwas unterhalb von ausgebildeten Krankenschwestern angesiedelt, man könnte sie als „Barfuß-Krankenpfleger“ bezeichnen, eingebunden jedoch in ein englisches Gesundheitssystem, das kostenlos war. Einer der beiden „Health-Officer“, er war etwas devoter als der andere, bezeichnete die „Heiler“ und „Schamanen“, die Geld für ihre Behandlung nehmen, als seine „Hauptgegner“, die er als „Betrüger“ bekämpfte. Während der andere, der souveräner wirkte, bei dem „Hauptproblem“ in seinem Distrikt – die Bisse einer bestimmten Giftschlange – sogar die „Zauberdoktoren“ um Hilfe bat, die in solchen Fällen die Bißstelle mit Lehm und bestimmten Pflanzensäften beschmieren und dazu Zaubersprüche murmeln: „Das hilft fast immer – und ich spare mein teures Serum,“ erklärte er mir. Die beiden Health-Officer nahmen also zwischen dem „wilden“ und dem „wissenschaftlichen Denken“ unterschiedliche Positionen ein. Wir diskutierten dann über die westliche Anthropologie, diese behauptet u.a., es gäbe ein Wissen über den Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt. Die Kenntnis reiche weit über die westlichen Gesellschaften hinaus und betreffe eigentlich alle Menschen, ja sogar die vieler Tiere: Wenn z.B. männliche Löwen oder Schimpansen als neue Rudelführer alle nicht von ihnen abstammenden Jungen töten, damit sie schneller – mit ihren Genen versehene – eigene Nachkommen zeugen können. Dem gegenüber stehen ethnologische Feldforschungen – beginnend mit denen von Bronislaw Malinowski bei den Trobriandern, deren Inseln zu Papua-Neuguinea gehören: Trotz guter anatomischer Kenntnisse leugnen die Trobriander den Zusammenhang von Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft, dennoch werden unverheiratete Frauen, obwohl sie viel Geschlechtsverkehr haben (können), fast immer erst nach ihrer Heirat schwanger. Weil erst dann ein „Vater“ da ist, „der das Kind in den Arm nehmen kann, wie sie sagen“. Der Vater ist bei den Trobriandern also keine biologische, sondern eine rein soziale Kategorie.

Malinowski schrieb: „Da die Zeugungsfunktion des Geschlechtsakts unbekannt ist, weil die Samenflüssigkeit als harmlos gilt, ja als wohltuende Ingredienz, gibt es keinen Grund, ihr Eindringen zu verhindern – deswegen kennen die Trobriander auch keine Verhütungsmittel.“ Und das gilt nicht nur für die Menschen, sondern auch für ihre Hausschweine, deren weibliche Tiere, da alle männlichen kastriert werden, sich von männlichen Wildschweinen im nahen Urwald decken lassen, was die Trobriander jedoch heftig bestreiten, zumal sie Wildschweinfleisch verabscheuen und nur das Fleisch von ihren Hausschweinen essen.

Die beiden Health-Officer vertraten natürlich die aufgeklärte westliche Position in dieser Frage. Bei den Baumkängurus, die am Boden leben, war es jedoch umgekehrt, denn ich berief mich dabei auf Wikipedia, d essen Eintrag sich auf den für mich abstoßenden australischen Biologen Tim Flannery und seinen „Abenteuer“-Bericht „Dschungelpfade“ (2003) stützt sowie auf eine BBC-Dokumentation: „Die Südsee – Das Abenteuer“ (2009). Beide handeln vom Dingiso-Baumkänguru, das irgendwann beschloß, wieder am Boden zu leben. .

Flüsse als Gegenstand

Vier völlig unterschiedliche Bücher über Flüsse. Zunächst das von Gabriele Riedle und Viktor Jerofejew: „Fluss“ (1998) Es handelt sich dabei um die Flüsse Wolga, Rhein, Ganges, Mississippi und Niger, die das Liebespaar als Lustreise befuhr. Riedle besorgte das Geld: Sie und Jerofejew veröffentlichten dafür über jede Flußfahrt einen Doppeltext – in einer Art Dialog. Man erfährt dabei nicht viel über die Flüsse und ihre Umgebung. Stattdessen geistreiche Gedanken, die den beiden an Deck und in ihrer Kajüte einfielen. „‘Ich liebe die Flüsse, die flinken Schlangen des Lebens. Ich liebe ihre silbrige Haut‘. Ein Russe und eine Deutsche bereisen fünf Flüsse, aber die Welten, die sie vorfinden, sind uferlos und scheinen verzaubert. Ein Roman in zwei Stimmen über eine abenteuerliche Expedition,“ heißt es im Klapptentext. Riedle brachte ihn zunächst auf Deutsch heraus, als Jerofejew die russische Ausgabe besorgte, waren darin gemeinerweise nur noch seine Monologe.

Das zweite Fluß-Buch „Die Elbe. Europas Geschichte im Fluß“ (2013) schrieb der Historiker Uwe Rada. Es ist z.T. eine Recherche für einen Film und eine familiale Spurensuche. Der polnisch sprechende Autor veröffentlichte bereits Bücher über die Oder und die Memel. Er hat in den Flüssen sein Thema gefunden. Als nächstes kommt vielleicht ein Buch über die Weichsel. Hoffentlich macht er kriegsbedingt nicht am polnischen Grenzfluß Bug Halt – auf seinem Fluß-Studien-Weg gen Osten, denn die großen Flüsse Dnepr, Ob, Jenissei, Lena, Amur etc. kommen ja in der Richtung erst noch.

Neulich lief eine TV-Doku über die Lustreise eines älteren Ehepaars mit ihrem Segelschiff die Ostseeküste entlang „Von der Oder bis zur Newa“ (St.Petersburg), wie es in der Ankündigung hieß, aber der Film endete vor der Grenze zu Kaliningrad im Nogat-Delta. Wegen des Kriegsausbruchs in der Ukraine wollten die ARD-Redakteure wohl den deutschen Zuschauern keine idyllischen Urlaubseindrücke aus Russland zumuten.

Die Elbe ließ bei Rada keine solche Bedenken aufkommen – auf ihrer 1094 Kilometer-Strecke vom Riesengebirge bis zur Mündung in die Nordsee. Sie hat nur ein kleines Problem: Dort wo ihr Nebenfluß, die Moldau, in die Elbe mündet, ist jene breiter als diese – und deswegen müßte nach allen internationalen Gepflogenheiten bei der Benennung eines Flusses die Elbe eigentlich Moldau heißen.

Immerhin gibt es am Prager Ufer in Hamburg noch einen Moldauhafen, der den Tschechen gehört. Inzwischen ist ihnen allerdings dieser Außenposten (mit dem „Böhmen am Meer“ liegt – ein Sehnsuchtstopos, den die Dichter mehrmals bemüht haben) laut Rada „eher eine Belastung. Der Rückzug der Tschechen weckt in Hamburg Begehrlichkeiten“ – auf die 30.000 Quadratmeter große Immobilie am Fluß. Ihre tschechische Verwaltungsgesellschaft (CSPL) wurde vom Konkursverwalter bereits nach Magdeburg an die mittlere Elbe verlegt.

Einer der Vorbilder für Radas Flußgeschichten ist Peter Ackroyds Buch über die Themse, für den „das Schicksal Englands innig mit dem dieses Flusses verknüpft ist“. Ackroyd nennt seine Arbeit „liquid history“. Auch Rada will eine Geschichte des Flusses schreiben, wobei er ihn nicht „zum Objekt der Geschichte“ machen will, er schrieb dennoch eine Menschengeschichte und keine Fluß-Biographie, was die Lektüre seines Buches jedoch nicht schmälert.

Anders der Gewässerökologe Josef Reichholf mit seinem Buch „Flussnatur. Ein faszinierender Lebensraum im Wandel“ (2021). Es geht ihm darum, die Zusammenhänge herauszuarbeiten zwischen dem Wasser, den Wassertieren und-pflanzen, den am Wasser lebenden Vögeln und Säugetieren, dem Wetter und den Eingriffen der Menschen – vor allem in die Flüsse Isar und Inn (aber auch in Elbe und Donau) durch Begradigung, Eintiefung, Stauung, Einleitung von Abwässern und Giften, Trockenlegung von Auwäldern und Renaturierung. Dabei stößt Reichholf auf „widerstreitende Interessen“ zwischen Ökologie und Ökonomie. Letztere vertreten durch Angler, Ausflügler, Schiffseigner, Landwirte, Krafwerksbetreiber und Mühlenbesitzer. Sein Flußbuch ist „ein bewegendes Plädoyer für diesen Lebensraum,“ schreibt „spektrum.de“. „Als bekennender Naturschützer plädiert Reichholf dafür, Flüsse durch Renaturierung wieder mehr Raum zu geben. Denn nur so könnten sie auch wieder vor Hochwässer schützen.“

Für den Autor sind Flüsse Subjekte, Akteure, mehr noch: Sie bestehen aus unzähligen Akteuren, jedenfalls so lange bis sie „umkippen“, weil sie die fortwährende „Abflussertüchtigung der Fließgewässer“ nicht verkraften.

Noch tiefschürfender sind nur die jahrzehntelangen Studien der Forscher der limnologischen Fluss-Station Schlitz der Max-Planck-Gesellschaft. Sie konzentrierten sich dabei auf den bloß vier Kilometer langen Breitenbach, einem kleinen Nebenfluß der Fulda, der nach über 50 Jahren das am Besten erforschte Fließgewässer der Welt ist : Grundlagenwissen für alle Fluß-Biographen. Dazu sei von ihren vielen Publikationen nur das Buch „ Central European Stream Ecosystems: The Long Term Study of the Breitenbach“ (2011) erwähnt.

In der Schule redeten wir Jungs gerne darüber, was und wie wir irgendetwas klauen würden – im Supermarkt oder im Kaufhaus z.B.., während die Mädchen desinteressiert bis abschätzig zuhörten. Erst viel später kamen wir dahinter, dass sie zwar nie übers Klauen redeten, aber dafür umso öfter klauten – Lippenstifte. Mit einer Schulfreundin ging ich einmal in eine Drogerei, wo ich einen Lippenstift für sie klaute. Sie fand Farbe und Marke jedoch unannehmbar, ich sollte beim nächsten Mal lieber Schmiere stehen und das Stehlen ihr überlassen.

Der „ Liebesstift “ ist weltweit das meistverkaufte Schönheitsprodukt, Millionen Frauen zwischen 15 und 95 benutzen ihn täglich, heißt es auf der Internetseite des Berliner Lippenstift-Museums des „Starvisagisten“ René Koch, der auch ein Buch über die Geschichte des Lippenstiftes „ Lucky Lips “ veröffentlichte . In seiner Sammlung befinden sich u.a. 150 Kussabdrücke von diversen Diven wie Milva, Bonnie Tyler und Hildegard Knef. Die Exponate reichen v on den Anfängen des Kosmetikprodukts über die Nutzung von Lippenstiften in Film und Fernsehen hin zur Hippie-Ära und der Verbreitung des Stiftes in der Bevölkerung. Seine Museums einladungen sind be gehrt .

Die Journalistin Elisabeth Wirth schreibt über Lippens tifte: „ Der amerikanischen Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez geben sie den nötigen Schub Selbstbewusstsein, sie sind in ihrem ersten Wahlkampf ihr signature look geworden. Der Journalistin Senka Kurtovic gelang es mit ihnen, den Anschein von Normalität während der Zeit der Belagerung von Sarajevo in den 1990ern aufrechtzuerhalten. Und die Schriftstellerin Herta Müller behauptete in den Verhören des rumänischen Geheimdiensts mit ihnen ihre Würde. Rote Lippen. Widerstand, Subversion, Verwandlung, Selbstbehauptung, Macht, Verführung. ..

Im 18. Jahrhundert erließ das britische Parlament ein Gesetz, das Männern erlaubte, eine Ehe zu annullieren, wenn sie behaupteten, sie seinen heimtückisch von den rotgefärbten Lippen einer Frau hinters Licht geführt und um ihre Freiheit betrogen worden.“

Die Corona-Pandemie hat nun allerdings den Lippenstift-Verbrauch stark eingeschränkt , denn zum Einen sieht man die Lippen nicht hinter der FFP2-Maske und zum Anderen schmiert man diese damit von innen voll.

Der Chemiker und Schriftsteller Primo Levi eröffnete nach seiner Befreiung aus dem KZ Auschwitz ein Chemielabor in Turin. In seinem Buch „Das periodische System“ (1979) erzählt er im Kapitel „Stickstoff“, wie es dazu kam, dass er sich einmal mit der Herstellung eines kussfesten Lippenstift e s beschäftigte: „…und endlich kam der Kunde, von dem wir immer geträumt hatten,“ heißt es gleich am Anfang. Es war ein Lippenstifthersteller, er arbeitete in einer „verlotterten Halle“ mit etwa einem „Dutzend dreister junger Mädchen“.

Sein Herstellungsverfahren war einfach: Es wurden in einem Emailletopf Wachse und Fette geschmolzen, dann einige Duft- und Farbstoffe hinzugegeben und das Ganze in eine „winzige Form“ gegossen. Diese wurde unter fließendem Wasser gekühlt. Das wars, aber das reichte nicht. „Der Besitzer griff sich grob eines der Mädchen“ und zeigte dem Autor ihre Lippenränder: Sie waren verschmiert. „Jeden Morgen mußten die Mädchen Lippenstift auftragen und er küsste sie achtmal am Tag, um zu prüfen, ob sein Erzeugnis kußfest war.“ Primo Levi sollte ihm einige Kilo Alloxan besorgen, das nicht wie aufgetragene Farbe wirke, sondern eine echte und dauerhafte Färbung der Lippen be wirke.

Primo Levi machte sich in einer Bibliothek kundig: Alloxan war ein Derivat des Harnstoffs. Der Mensch schied nur wenig davon aus, in den Exkrementen von Vögeln war es jedoch 50 Prozent. Zusammen mit seiner Frau machte sich Primo Levi auf den Weg, um bei Bauern Hühnermist zu erwerben. Im Labor versuchte er dann das Alloxan auszulösen. Die Arbeit brachte ihm jedoch „nur schmutzige Dämpfe, Ärger, Erniedrigungen und eine schwarze trübe Flüssigkeit“ ein, „die auf irreparable Wei s e den Filter verstopfte und keinerlei Neigung zum Kristallisieren zeigte, wie es nach dem Lehrbuch hätte der Fall sein müssen.“ Trübsinnig gab er den Auftrag an den Lippenstiftunternehmer zurück.

Seitdem haben sich zigtausende von Chemiker weltweit bemüht, kussfeste Lippenstifte herzustellen. Empfohlen wird im Internet der Stift „Always on liquid lipstick von Smashbox in der Farbe Miss Conduct“. Dazu gibt es auch noch „Magic Fix“: ein „Lippenstiftfixierer für kussechte Lippen“. Desungeachtet stecken „krebserregende Stoffe, Erdöl und zerquetschte Tiere [ Cochenilleschildl äuse] i n den Lippenstiften ,“ heißt es auf einer Internet-Plattform, und weiter: „ Die Naturkosmetikunternehmen Raw Natural Beauty errechnete 2009, dass jede Frau im Laufe ihres Lebens ungefähr 3,5 kg Lippenstift isst.“

Das Magazin „Ökotest“ fand in den Stiften den Farbstoff Tartrazin, d er Juckreiz und Ausschläge verursachen kann. Hinzu kommen Konvervierungsstoffe wie Parabene, die sich „ negativ auf die Fortpflanzung auswirken“ können . Dies gilt auch für das Pigment Titandioxid, das so gut wie alle Lippenstifte enthalten, „auch Naturkosmetik,“ wie die Stiftung Warentest schreibt . Es gibt Stifte, die als „vegan und tierversuchsfrei“ gelten . Aber n ur wenige Lippenstifthersteller verzichten auf Tierexperimente.

Die „breite Mitte“

Gerade dafür, meinte der FDP-Finanzminister Lindner kürzlich, brauche es Steuersenkungen. Also nicht mehr für die Großverdiener, sondern für die „breite Mitte“. Wer ist das überhaupt? Es war mal nach dem Krieg in der BRD ein Wirtschaftsziel, eine wachsende „Mittelschicht“ zu schaffen, durch eine immer größeren Arbeiter-Anteil. Die Arbeiter sind integriert, verbürgerlicht, kam es in den Sechzigern aus den USA vom Mitdenker der Studentenbewegung Herbert Marcuse, deswegen müsse man sich als linke Bewegung den „Randgruppen“ der Gesellschaft zuwenden. Hier entstand daraus eine ganze „Randgruppen-Strategie“.

Mit der Einrichtung von 12 neuen „Reformuniversitäten“ machte die Regierung von Willy Brandt dann beinahe Ernst mit der Integration der Arbeiter, denn fortan brauchten diese dazu bloß ein harmloses „Begabtenabitur“ an den Unis ablegen und waren Studenten, gleichzeitig holte man die meisten Rädelsführer aus der Studentenbewegung in die Planungsausschüsse der neuen Unis sowie als Professoren. Damit bewegte man die Studentenmassen von der Strasse weg wieder in die Unis zurück, wo ihnen sogar „Drittelparität“ versprochen wurde.

Seit den Achtzigerjahren und der neoliberalen Wende inklusive Privatunis ging es wieder rückwärts mit der Zahl der Arbeiter an den Universitäten. Und nicht nur das, die Soziologen registrierten auch eine „Brasilifizierung“ , die mit einer „Polonisierung“ einhergeht. Ersteres heißt: die Mittelschicht löst sich zu kleinen Teilen nach oben und zu großen nach unten auf. Damit geht Letzteres einher: Es entstehen massenhaft kleine Klitschen, neuerdings auch Start-Ups genannt. Kurzum: Von einer breiten Mitte (wide middle) kann schon lange keine Rede mehr sein, höchstens wie nach dem Krieg als politisches Versprechen. Fast schon ein Bonner Parteienkonsens damals. Nehmen wir an, Lindner ist wieder dort angekommen und meint nun, mit Steuererleichterungen wird die Mitte breiter. Er würde vielleicht sogar sagen: „noch breiter“. Auf der Internetseite „liberale.de“ ist dazu von einem ganzen „Entlastungspaket für die breite Mitte“ die Rede. In der TV-Talkshow von May-Britt Illner führte Lindner laut „n-tv.de“ aus: „…Müssen uns um die breite Mitte kümmern“. Bei dem Wort „kümmern“ muß man natürlich sofort an die Aufforderung der brandenburgischen SPD-Sozialministerin Regine Hildbrandts denken, die sie in einer Talk-Show von Christoph Schlingensief äußerte: „Also kümmern se sich!“ Überhaupt war das Kümmmern ihr Leitmotiv. Und gegen eine breite Mitte hätte sie wahrscheinlich auch nichts gehabt – leitmotivisch.

Sie starb 2001 in Woltersdorf. Und seitdem hat sich einiges weiter verändert. Der Club of Rome wurde quasi abgelöst von einem Club of Davos. Und „die breite Mitte wird immer dünner,“ wie „Die Zeit“ 2015 feststellte. Und so wirkt sich d iese „Brasilifizierung“ z.B. in Brasilien aus: Dort kam es 2015/16 zu einer „Zika-Epidemie“, ausgelöst von einem Virus, der u.a. von der Tigermücke übertragen wird. Gefährlich ist das Zika-Virus vor allem für Ungeborene, deren Mütter während der Schwangerschaft infiziert werden. Die Epidemie verbreitete sich vor allem in den Favelas und Armenquartieren, wo in Pfützen, Abwasserkanälen und Regentonnen günstige Bedingungen für die Mückenlarven bestehen. Und für die Mücken offene Fenster. Die Regierung mußte den nationalen Notstand ausrufen. Es kamen Epidemiologen aus aller Welt und von dort bald auch Impfstoff e . Es wurden dafür und für alles, was damit zusammenhing, Milliarden ausgegeben, aber keinen Cent für versiegelte Straßen, geschlossene Abwasserkanäle, überdachte Zisternen usw. in den riesigen Wohngebieten der vom Zika-Virus Betroffenen .

Dahinter steckt nicht nur eine imperialistische Kolonialisierung (Verkauf von patentierten Impfstoff und Einrichten von Impfzentren ) , sondern auch ein Rückfall in die finstersten Anfänge der (englischen) Beschäftigung mit den Armen: Die Bürger hatten Angst vor den Seuchen, die dort wegen der katastrophalen Lebensbedingungen auf engstem Raum ausbrechen konnten, aber genauso auch vor dem Ausbruch von Revolten dort . Zu den Pionieren der „Slumforschung“ Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte der englische „Punch“-Herausgeber Henry Mayhew. Obwohl der Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Rolf Lindner dessen Schriften für seine Seminarteilnehmer kopierte, wußte ich nicht, obwohl ich es mir hätte denken können, dass „m anche Angehörige der Unterschichten mit der Art, wie Mayhew sie in seiner Reportage schilderte, nicht einverstanden waren . Eine Gruppe von Straßenhändlern schloss sich 1851 gegen den Journalisten zusammen und gründete eine „ Street Trader’s Protection Association“ (Wikipedia) .

In Deutschland begann die „Unterschicht-Forschung“ und Betreuung ebenfalls infolge der wachsenden Ängsten de r Wohlhabenden vor den ansteckenden Krankheiten und der kollektiven Wut der unteren Klassen – Arbeiter und Lumpenproletarier. Die erste Berliner Unterschicht- Studie entstand in Friedrichshain. Dort gingen auch die Damen der besseren Gesellschaft zur Kontrolle in die Häuser der Armen, um sich bei den Bewohnern nach ihrem werte n Befinden zu erkundigen.

Essen auf Rädern

„Heute bleibt die Küche kalt, heute gehen wir in den Wienerwald,“ hieß einst der Werbespruch der ersten Schnellrestaurantkette (gegründet in München 1955), in der es Hähnchenprodukte, auch zum Mitnehmen, gab. Heute heißt es ähnlich – von der finnischen Lieferfirma „Wolt“: „Berlin erreicht Herd-Immunität“. Der Unterschied: In den „Wienerwald“ ging man vielleicht einmal im Monat, Wolt will, dass man Zuhause bleibt und sich täglich von ihr ein „Essen auf Rädern“ bringen läßt. So wie es für bewegungsbehinderte Alte oder Kranke angeboten wird. Das ist allerdings kein „Schnellessen“.

Fast im Monatstakt werben heute neue Bringdienste in den U-Bahnhöfen. Ich vermute, dass dahinter jedesmal clevere Millenials stehen, die ständig an ihren Smartphones rummfummeln, sich nächtens Fastfood und Softdrink-Mist kommen lassen und dann einen Bringdienst als „Start-Up“ gründen, indem sie einen Schwarm armer Schweine als Ausfahrer einstellen. Bei einem umfassenden „Lockdown“ verspricht dieser Ami-Quatsch ein Bombengeschäft zu werden.

Beim Lieferdienst „Gorillas“ streikten kürzlich einige Fahrer, sie wurden entlassen. Anders als bei den Handwerksbetrieben gibt es anscheinend genügend Leute, die so einen „Job“ machen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Ich kenne allerdings einige Ausfahrer, die das machen, weil sie leidenschaftliche Radfahrer sind – arme Irre! Ich kenne auch einige Lieferdienste, die wir 2020 in Anspruch nahmen, um ihren „Service“ zu testen: Das Zeug, ob thailändisch, italienisch oder türkisch, schmeckte schlecht, stank, war lauwarm, ausgepackt ein ekelhafter Anblick und hinterließ jedesmal einen halben Mülleimer voll Verpackungsmaterial.

Diese Lieferdienste sind nur was für Amis und ihre gehirngewaschenen Followers, die sowieso von Hamburger, Pizzas und ähnlichem Zeug leben. In Deutschland gibt es daneben noch Döner und Currywurst im Fast-Food-Angebot, was aber auch nicht besser ist. Am Bescheuertsten sind die „vegetarischen Döner“ (Gemüse-Kebab), weil an deren Verkaufsständen (berühmt ist der am Kreuzberger Mehringdamm) ständig zig Leute Schlange stehen, denn es ist „total angesagt“, dort das Billiggrünzeug in sich reinzustopfen – ein Fake-Slow-Food.

Schon etwas besser ist der gediegene „Start-Up“ der Mongolistin Katherina: „Soup Kultur“. Sie bietet in ihren vier Berliner Läden wie der Name schon sagt Suppen und einige wenige andere Speisen an. Man kann sie auch mit nach Hause nehmen: Es gibt dazu gegen Bezahlung von ihr ausgeklügelte „Henkelmänner“. Berühmt wurde dieses System in Bombay: Dort kochen die Ehefrauen von zigtausend in der City arbeitenden Männern das Essen zu Hause, das sie in Warmhaltegeschirr packen und erst mit Zug und dann von Trägern zu ihren Gatten bringen lassen. Weil jede Mahlzeit auch täglich an den richtigen gebracht werden muß, sind die Träger, die dieses logistische Wunder – ab Victoria-Hauptbahnhof – vor allem bewerkstelligen, inzwischen Protagonisten von vielen in- und ausländischen Dokumentarfilmen geworden.

Während der chinesischen Kulturrevolution weigerten sich Bäuerinnen, ihren Männern täglich das Essen aufs Feld zu bringen. Vor allem, weil sie mitbekamen, dass diese, auf den kleinen Reisfeldern nebeneinander arbeitend, dabei ständig diskutierten, während sie, jede für sich allein, still im Haus arbeiten mußten: Sie forderten Dorfkantinen – „Volksküchen“ in den Kommunen dann genannt. Das war zur selben Zeit auch eine Forderung der Linken in Westberlin. Noch heute gibt es dort ein paar „Volxküchen“.

In der LPG gab es – von der Küche aus zu den Außenstellen in den Nachbardörfern – einen „Lieferdienst“, d.h. einer aus der Fahrer-Brigade brachte uns täglich das Essen, ebenfalls in speziellen „Henkelmännern“ (ohne Henkel). Es war zwar nicht lauwarm, schmeckte aber trotzdem nicht besonders.

Ähnliches gilt für das Essen in vielen Betriebskantinen: Ein Gericht für eine Familie oder eine kleine Gruppe zu kochen, ist leider in physikalisch-chemischer Hinsicht etwas ganz anderes als ein Gericht für über 100 Leute zu kochen. Im Batteriewerk Oberschöneweide (BAE) kam noch etwas anderes hinzu: Dort knallte ein Arbeiter dem Parteisekretär Petras, den übrigens alle mochten, das Essen mit der Bemerkung auf den Schreibtisch: „Dieser Fraß ist ungenießbar!“ Petras versprach, sich darum zu kümmern. Und tatsächlich wurde das Essen auch besser. Aber nur für einige Wochen, „dann steckte das Küchenpersonal die besten Zutaten wieder für sich ein,“ wie einige der Arbeiter mutmaßten. Der Kantinenfraß wurde auf alle Fälle erneut ungenießbar.

In den Mensen der BRD-Universitäten fand in den Achtzigerjahren ein Wandel statt: Zum Einen wetteiferten die Chefköche untereinander um das beste Essensangebot und zum Anderen ließen sie sich neue Gerichte einfallen – u.a. vegetarische. Gleichzeitig wurden die Gerichte auf den Speisekarten immer anspruchsvoller benamt – gerne mit Wörtern aus den romanischen Ländern, deren Küchen einen guten Ruf hatten und immer noch haben. Auch in vielen Restaurants habe ich leider den Eindruck, dass die Köche die meiste Energie und Leidenschaft auf die Benamung ihrer Speisen verwenden.

Wir haben inzwischen eine wahre Start-U p p er -Pest. Über die bescheuerten Lebensmittel- und Restaurantspeisen- und vor allem Fastfood-Auslieferer habe ich mich erst mal genug echauffiert . Aber es scheint auf diesem windigen Internet-Markt wahre Moden zu geben. Eine Weile lang warben ständig neue Bankgründungen in den U-Bahnhöfen, sie nannten sich Smartphone-Banken: Alle Geldgeschäfte werden bei ihnen angeblich „easy“ und „schnell“ erledigt – mittels „financial technology“. Deswegen heißen sie auch „Fintech-Banken“.

Es würde mich nicht wundern, wenn unsere amihörigen Politiker demnächst das Bargeld abschaffen, damit diese verdammten Start-Up-Banker wirklich durchstarten können . Es gibt inzwischen eine Unzahl „Finanz Startups“ – und alle wollen mit unserem Geld „arbeiten“. Daneben sind sie – als geplante Aktiengesellschaften – auch auf Aktionäre scharf, eine Finanzzeitung meint jedoch : „‘Es reicht nicht, Fantasien zu verkaufen‘ – ruppiges Börsenklima für Fintechs“.

Nach ihren einmaligen Plakataktionen in den U-Bahnhöfen sah und hörte man übrigens nie wieder etwas von diesen virtuellen Banken. Wikipedia listet nur noch fünf von 900 auf.

Aber dafür gibt es nun neue Start-Ups, sie alle wenden sich, wie auch die anderen zuvor, an naßforsche Millennials und werfen deswegen mit Amerikanismen nur so um sich. Eins nennt sich „taxfix“: dieses Start-Upp will die jährliche Steuererklärung für uns erledigen. Als wenn es nicht schon genug Steuerberater gäbe. Das Problem dabei ist doch, dass diese, ebenso wie die neuen taxfixer, Geld für ihre Arbeit haben wollen, das ich jedenfalls nicht habe, weswegen ich meine Steuerklärung selbst mache. Die taxfixer werben dazu noch mit dem extrem unseriösen Spruch: „Schluss mit Steuer-blablablabla-erklärung“. Daran sieht man, dass sie anscheinend noch wenig Ahnung von Steuererklärungen haben, denn dabei erzählt man kein „blahblah“, sondern zählt Zahlen.

Noch schlimmer, geradezu gemeingefährlich sind die Start-Ups der Drogendealer. Kurando z.B., das uns „Medikamente in 30 Minuten“ liefern will: „Free delivery. Bestelle jetzt…“

Oder „Mayd“, d as ebenfalls verspr icht , uns die Zahnschmerz-Tabletten in „30 Minuten“ zu liefern. Renner sind angeblich die nicht-rezeptpflichtigen Potenzmittel . Das Start-Up kooperiert mit Apotheken. Diese nehmen die Bestellungen auf und kommissionieren sie, d.h. sie stellen die Ware zur Abholung bereit . Mayd hat bloß die Fahrer, die sie ausliefern. Wir haben es also auch hier mit einem oder mehreren Cleverlies (in Sneakers und Kapuzenpullis) zu tun. Sie sitzen in ihrer Computer-Zentrale und stellen einen, mehrere, oder wenn es gut läuft: ganz viele arme Schweine oder besessene Sportler ein, die mit Fahrrad bei Wind und Wetter durch die Stadt jagen – und dabei ständig ihr Firmen-Smartphone am Ohr haben.

Auf „businessinsider.de“ heißt es: „ Mayd ist nicht das einzige deutsche Startup mit dieser Idee. Nach der aktuellen Seedrunde ist es allerdings das am besten finanzierte.“ Eine „Seedrunde“, das sind Samenspender: A uf der „business insider “-Plattform heißt es dazu : „Von ihrer ersten Firma McMakler sind die Gründer Hanno Heintzenberg und Lukas Pieczonka bereits große Finanzierungsrunden gewöhnt. Nun haben sie für ihr neues Startup Mayd eine beachtliche Seedrunde in Höhe von insgesamt 13 Millionen Euro abgeschlossen. Das Geld kommt von 468 Capital, Earlybird und Target Global . Laut eines Linked l n-Posts von Gründer Pieczonka haben auch bekannte Business Angels wie etwa die Amorelie-Gründerin Lea-Sophie Cramer, der Auto1-Gründer Hakan Koc, Aitme-Chef Emmanuel Pallua und die drei Flixbus-Gründer investiert.“

W ahrscheinlich sind die Samenspender alle selbst erfolgreiche Start-Upper, ebenso vielleicht sogar die Autorin Sarah Heuberger, die diese Mayd- Meldung auf „businessinsider.de“ (auch ein Start-Up – für Start-Upper?) veröffentlichte.

Um was geht es bei diesem „Angriff der quietschgrünen Pillenverkäufer“ von MAYD? fragte sich der „stern“. Wir schlucken oder spritzen doch sowieso schon zu viele Drogen gegen und für alles Mögliche – und sind sogar Weltmeister beim Wegspülen von Medikamenten in Toilette n . Nur die Amis nehmen noch mehr Tabletten, viel mehr. Eine Vergleichs-Studie ergab: Bei ihnen wirken sie auch besser als bei uns. N ebenbeibemerkt kann man in den USA auch kaum noch Lebensmittel im Supermarkt kaufen, die nicht gentechnisch „optimiert“ wurden, wie eine andere Studie ermittelte .

Mayd war so erfolgreich als Drogendealer, dass seine Vertragsapotheken nicht nachkamen mit den Bestellungen . Einige Start-Upper haben bereits Lieferdienst und Apotheke verbunden: die Versandapotheke „DocMorris“ z.B., d ie 2000 von einem niederländischen Apotheker und einem deutschen Ingenieur gegründet wurde und jetzt dem Schweizer Konzern „Zur Rose Group AG “ gehört.

Die traditionellen Drogendealer wehren sich zwar gegen DocMorris, haben aber eigentlich schon vor dem erfolgreichen „ New Dealer“ kapituliert – als „Start-Downs“ : „Für den Apothekerverband ist die Strategie von DocMorris nur Augenwischerei. ‚Es gibt jetzt schon viele Einkaufsgemeinschaften von Apotheken, die sich auch in einem gemeinsamen Look präsentieren. Diese kaufen bei Großhändlern billiger ein und unterbieten oft die Preise von DocMorris‘, sagt Annette Rogalla, Sprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände“ dem „stern“-Autor Malte Arnsperger, der an sich Leiter des „News-to-be-smart“-Rooms bei BURDA FORWARD ist, was der „Bunte“-Besitzer Hubert Burda als „digitales Medienhaus der Zukunft“ bezeichnet. D ieses „Forward“ (Vorwärts) läuft wahrscheinlich auf eine „Bunte für die Start-Upper-Class“ raus.

Im Internet findet man über Millionen Einträge zum Stichwort „Socken“, u.a. diesen: „ Kann denn der Führer des deutschen Volkes nicht mal ein anständiges Paar Socken bekommen ?!“ Schimpfte Adolf Hitler. Ein anderer Eintrag lautet: Eine Lehrerin aus Hagenow schickte ihm ein paar Strümpfe: „ Während Sie das Sudetenland befreiten,“ schrieb sie , „habe ich diese Strümpfe für Sie gestrickt. Nun haben wir beide unser Ziel erreicht, Sie ein großes, ich ein kleines.“

Der „Völkische Beobachter“ berichtete , dass „alte Frauen“ Strümpfe für den Führer gestrickt und ih m dazu geschrieben hätten, „dass er doch keine Mutter hätte, die für ihn sorgte und sie möchten nun gerne für ihn sorgen“. Die Frauenschaft des Gaus Groß-Berlin strickte 12.000 Paar Socken, allerdings nicht für Hitler , sondern für seine Soldaten . Aber andere Frauenschaften des Reiches strickten auch Socken für den Führer persönlich.

2016 berichtete die „Morgenpost“ von einer Auktion in München: „ Sie sind schwarz, nicht braun: Adolf Hitlers Socken stehen in München zum Verkauf, für mindestens 500 Euro. Die polnische Firma „Nanushki“ sorgt e mit Hitler-Socken für Empörung: Unter dem Namen „Adolf“ bot die Firma Socken an, die das Gesicht Hitlers im Comic-Design zeigen. Nur 25 Zloty (ca. 6 Euro) sollte das Paar kosten. „Adolf“ sei ein „kluger Stratege“ und der „geborene Führer“. „Er hat den Auftrag, die Sockenschublade zu überwachen. Das macht er sehr effektiv. In seiner Freizeit entwirft und zeichnet er einen Plan, um die Welt zu erobern“, so die Beschreibung zum Produkt. F ür den respektlosen „Scherz“ erntete die Firma einen Shitstorm. „Uns fehlen die Worte“, schrieb etwa das „Auschwitz Memorial“ auf Twitter.

„Socken sind an sich ja eine gute Idee – ohne Socken wäre unsere Welt wohl ein kälterer Ort, zumindest an den Füßen,“ schrieb ein Autor im „stern“, aber es g äbe dabei ein Problem: „den weltweiten Sockenschwund in Waschmaschinen“. Er dachte sich deswegen Möglichkeiten aus , um die Sockenpaare auch im Schleudergang zusammen zu halten. Ich entschied mich irgendwann für eine andere Lösung: Nur noch gleich aussehende Socken zu kaufen. Dabei macht es nichts, wenn einer verloren oder kaputt geht. Im Sommer kaufte ich ein halbes Dutzend bei einem Sockenverkäufer am Halleschen Tor und fragte ihn, wie das Geschäft l äuft . „Sie wissen doch, wie das ist,“ sagte er, „die meisten Leute kaufen erst Socken, wenn sie kalte Füße haben“.

Ein Freund sagte mir, er trage nur „Falke“-Socken, die seien „klimareguliert“ und haltbar. Einmal hatte er Pech: Sie rissen schon nach kurzer Zeit am Bund ein. Er schickte sie der Firma zurück mit einem freundlichen Brief, dass er ein ebenso langjähriger wie zufriedener Kunde sei, aber diesmal … Prompt schickte die Firma ihm ein neues Paar Socken und entschuldigte sich für den „Produktionsfehler“. „Falke“-Socken sind teuer, aber Socken aus Kame l- oder Yakwolle noch teurer.

„Meine Wolls ocken sind von Merinoschafen,“ meinte mein Freund , „die geben die beste Wolle.“ „Jede Schafwolle kommt von Merinoschafen – fast weltweit,“ erwiderte ich, „ da ist nichts Besonderes dran “. „ Aber warum kostet dann ‚die wärmste Socke aus der Merinosocken/Kältesocken-Linie von Darn Tough‘ fast 40 Euro?“ fragte er zurück.

Wir saßen in der Küche. A ls seine Frau und Tochter sich dazu setzten, entwickelte sich aus unsere m Socken- Small-Talk fast ein Socken- Abend . Seine Frau erzählte : „ Kürzlich fragte ich eine Verkäuferin bei ‚DM‘, ob es im Laden auch Socken ohne Gummizug im Bund gäbe. ‚ Natürlich ,‘ sagte sie, ‚ich zeig sie Ihnen. B ei mir sind S ie genau richtig, ich bin hier die Sockentante. Am Besten nehmen S ie diese hier. Die nennt man Diabetiker-Socken‘. “

Die Tochter krempelte ihre Hosen hoch und zeigte uns ihre „Funny Socks“: bunte Socken mit lustigen Motiven. Die seien aus Baumwolle und sie würde die online bei Amazon bestellen, erklärte sie. Ihre Mutter korrigierte sie: „Ich hatte diese tollen Socken für mich bestellt, gleich mehrere Paare, aber Luise hat sie nach und nach kassiert. Daraufhin habe ich für mich noch mal neue bei Amazon bestellt. Ich finde sie mega schön, bequem, haltbar, farbecht und immer ein Hingucker.“ „Was?!“ schaltete sich ihr Mann ein , „davon wußte ich gar nichts. Wir waren uns doch einig gewesen , ni chts bei Amazon zu bestellen.“

„Ich dachte, das gilt nur für Bücher, weil Du Deinen linken Buchhändler unterstützen wolltest, was ich auch richtig finde, aber die Socken sind doch bestimmt von einer Textilfirma,“ verteidigte sich seine Frau. Die Tochter sagte zerknirscht: „ Trotzdem, Amazon ist wirklich ein Scheißkonzern, darüber haben wir gerade in ‚Sozialkunde‘ geredet. Bereits in mehreren deutschen Städten haben die Amazon-Beschäftigten gestreikt und wollen demnächst weiter streiken.“

„Und ich habe gerade ‚Saisonarbeit‘ gelesen,“ sagte ihre Mutter, „ den Bericht einer Leipzigerin, die bei Amazon im Warenlager arbeitete und meint, dass mit der Arbeit dort etwas grundsätzlich faul sei . Das Buch habe ich bei Amazon bestellt, muß ich leider zugeben.“ Wir kamen da raufhin auf I nternet -Konzerne zu sprechen – und ab von den Socken.

„Es dauert nicht mehr lang, dann wird Weltraumschrott die Raumfahrt verhindern. Schon heute müssen Satelliten jede Woche Ausweichmanöver fliegen“, meinte die FAZ kürzlich. Hinzu kommen noch „tausende Satelliten“, die Elon Musk für sein „All-Internet“ hochschießen will. Und die Chinesen bauen seit kurzem im All an einer kilometergroßen Raumstation.

Der polnische Dokumentarfilmer Maciej Drygas interviewte einige Jahre nach Auflösung der Sowjetunion einige Kosmonauten für seinen Film „Im Zustand der Schwerelosigkeit“ (1995). Ausgangspunkt war ein Raumfahrtereignis: Der Kosmonaut Sergej Krikaljew, der 16 mal am Tag die Erde mit der 1986 in Betrieb genommenen Weltraumstation „MIR“ (Frieden/Welt) umkreiste, konnte nicht wie geplant zurückkehren, weil die sich auflösende Sowjetunion dafür kein Geld mehr hatte (u.a. hatte das eigenständig gewordene Kasachstan die Startgebühren für den Weltraumbahnhof Baikonur extrem erhöht). Langsam gingen die Lebensmittel oben zur Neige. „Ich fühle eine gewisse emotionale Anspannung“, gab Krikaljew per Funk zu Protokoll. Er und sein Kollege Alexander Wolkow konnten erst nach 311 Tagen auf die Erde zurückkehren.

Die BRD-Fernsehanstalten hatten die beiden mit einer Satellitenschaltung für 60.000 DM bereits 1992 interviewt – durch Roger Willemsen, der darüber einen Bericht schrieb, der 2020 unter dem Titel „Unterwegs“ veröffentlicht wurde. Er fragte Krikaljew als erstes: „Wie geht es Ihnen?“ Dieser antwortete: „Ganz normal“, d.h., schreibt Willemsen, „jemand rast mit 27.000 Kilometern in der Stunde durch den Raum und schwebt doch. Der Widerspruch ist auch für den Betrachter kaum lösbar.“

Die beiden Kosmonauten erledigten in der Kapsel wissenschaftliche Experimente: u.a. mit Wachtelküken, „die sich den Verhältnissen nicht assimilieren konnten und rasch starben, und Baumfröschen, die vergeblich die Schwerelosigkeit zu überhüpfen versuchten…“

Im Gegensatz zu den Amerikanern, „die immer nur Kurzaufenthalte im All absolvierten“, umkreisten die Kosmonauten die Erde oft monatelang. „Dazu mussten sie geschlossene Kreisläufe aufbauen: Strom aus Sonnenlicht, Wasser aus Urin, Ersatzteile aus Weltraumschrott gewinnen.“

Den Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 verurteilte Krikaljew per Funk als „verfassungswidrig“ und kündigte einen „Aufstand des russischen Volkes“ an. 1994 und 1998 nahm er an „russisch-amerikanischen Weltraummissionen“ (mit der Discovery und der Endeavor) teil.

Die BRD-Fernsehanstalten hatten, ebenso wie der polnische Dokumentarfilmer, sowjetische Filmdokumente gekauft, u.a. zeigten sie, wie Krikaljew im Mai 1991 in der kasachischen Steppe auf seine Rakete zugeht. Er erklärt: „Unsere Ersatzleute sind während der ganzen Zeit dabei. Sie haben sich auf den Flug vorbereitet, aber die einen werden zur Arbeit in den Kosmos geschickt, die anderen bleiben zurück.“

Sie sind ein andern Mal dran. So auch die von Maciej Drygas interviewten Kosmonauten. Einer meinte: „Die Zeit von Gagarin – das war großartig. Die ganze Nation war begeistert: Es ist gelungen! Wir sind die ersten, wir haben gewonnen!“ Ein anderer sagte: „Jetzt wollen die Leute was davon haben. Die Leute wollen, daß etwas Nützliches bei der Weltraumforschung herauskommt.“ Ein dritter: „Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.“

Es gibt eine Kreuzspinne namens Arabella, die 1973 im Weltraum – in der Schwerelosigkeit von „Skylab 3“ – sinnvolle Arbeit leistete, d.h. vier schöne Netze spann, wobei sie die Schwerelosigkeit dadurch überwand, dass sie herausfand, der einzige Weg, ein Netz im Flug zu spinnen, besteht darin, das Fliegen zu vermeiden – auf festem Boden zu bleiben. In einem schmalen Zwischenraum ihres Käfigs befestigte sie eine Brückenleine – und von da aus ging es. Die US-Autorin Elena Passarello schreibt in ihrem Buch „Berühmte Tiere der Menschheitsgeschichte“ (2018): „Eine Spinne in ihrem Netz ist uns weniger fern als ein Mensch, der in seiner Unterwäsche Rückwärtssalti durch ein Raumschiff schlägt.“ Arabella wurde deswegen der Star der „Skylab 3 Mission – an Bord ebenso wie auf der Erde, wo man ihre Arbeit am Bildschirm verfolgte“!. Leider starb sie bei der Landung. Als Todesursache wurde Dehydrierung angegeben. Sie ist heute ein Exponat im Nationalen Luft- und Raumfahrtmuseum der USA.

„Die Familie, in der ich zur Welt gekommen bin, unterscheidet sich in keiner Weise von Millionen anderer werktätiger Familien unseres sozialistischen Heimatlandes. Meine Eltern sind schlichte russische Menschen, denen die Große Sozialistische Oktoberrevolution ebenso wie unserem ganzen Volk einen breiten und geraden Lebensweg erschlossen hat“. So beginnt die Autobiographie von Juri Gagarin: „Der Weg in den Kosmos“ (1961 im Verlag Junge Welt). Der Gedanke eines geradewegs in das Universum führenden „Lebensweges“ scheint überhaupt russisch zu sein. So unterscheidet sich der sowjetische „Kosmos“-Begriff vom amerikanischen „outer space“ schon dadurch, dass ersterer mit der irdischen Lebenswelt „harmonisch“ verbunden ist, während der US-Weltraum so etwas wie eine „new frontier“ darstellt. Das meint jedenfalls die in den USA lebende russische Kulturwissenschaftlerin Swetlana Boym in ihrem Beitrag zum Bildband „Kosmos“ von Adam Bartos, das noch einmal das sowjetische Weltraum-Programm nostalgisch und en détail feiert.

Der Geruchssinn ist der Sinn der Extreme: Als Sinn der Lust, der Begierde, der Triebhaftigkeit trägt das Riechorgan den Stempel der Animalität. Riechen und Schnüffeln erinnert an etwas Tierisches. Die sprachliche Unfähigkeit, Geruchsempfindungen auszudrücken, würde den Menschen, wenn dieser Sinn vorherrschte, zu einem an die Außenwelt gefesselten Wesen machen. Wegen ihrer Flüchtigkeit könne die Geruchsempfindung niemals ein dauerhafter Anreiz für das Denken sein. Die Schärfe des Geruchssinns stehe im umgekehrten Verhältnis zur Entwicklung der Intelligenz – meint Alain Corbin in seiner Geschichte des Geruchs (2005)

Die Philosophin Mirjam Schaub beurteilt den Geruchssinn positiver (in: „Die Krux des Sinnlichen aus philosophischer Sicht – und die Folgen für die Ästhetik“ – 2015): „Menschlicher Eigengeruch gilt als Bildner der Ich-Funktion. Die Antike erkennt im Geruchssinn den Ursprung des Gefühls.Die mystische Theologie schwärmt vom ‚Geruch der Heiligkeit‘. Eine gewisses Madelaine-Gebäck, in Lindenblütentee getaucht, kann ein Suchen nach verlorener Zeit bedeuten. Aromatische Düfte steigern die Lebensgeister; Fäulnisgeruch und Pesthauch rauben den Atem. Vielleicht, weil er sich so sprichwörtlich an der Nase herumführen lässt und dabei so entschieden bleibt, wird der Geruchssinn philosophisch so gering geachtet.“

Es gibt Ausnahmen – unter den Sensualisten des 18. Jahrhunderts und später Nietzsche z.B.. Er meinte: „Ich erst habe die Wahrheit erkannt – indem ich sie roch. Mein Genie liegt in meinen Nüstern.“ Der Geruchssinn ist der älteste Sinn – und er ist mit der Erinnerung verbunden. So verströmt z.B. der Edelpilz „Matsutake“ für Japaner und Koreaner einen schönen Duft (voller Erinnerungen an ehemalige Landschaften und Lebensweisen), während er für Europäer und Amerikaner stinkt. In ihrem Buch über dieses „Riechen“: „Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus“ (2018) meint die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing: „Wir alle erleben diesen ‚Tigersprung in die Vergangenheit‘, wenn wir riechen. Die Vergangenheit, die wir in Begegnungen mitnehmen, ist im Geruch verdichtet.“

Noch schlimmer als den Geruchssinn philosophisch zu verachten ist es, ihn politisch zu vernachlässigen. Der Publizist Sebastian Haffner schrieb in seiner „Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 – 1933“, was ihn davor schützte, ein Nazi zu werden: „Meine Nase. Ich besitze einen ziemlich ausgebildeten geistigen Geruchssinn, oder, anders ausgedrückt, ein Gefühl für die ästhetischen Valeurs (und Non-valeurs!) einer menschlichen, moralischen, politischen Haltung oder Gesinnung. Den meisten Deutschen fehlt leider das gerade vollständig. Die Klügsten unter ihnen sind imstande, sich mit lauter Abstraktionen und Deduktionen vollständig dumm zu diskutieren über den Wert einer Sache, von der man einfach mittels seiner Nase feststellen kann, dass sie übelriechend ist. Ich meinerseits hatte schon damals die Gewohnheit, meine wenigen feststehenden Überzeugungen vermittels meiner Nase zu bilden. Was die Nazis betraf, so entschied meine Nase ganz eindeutig.“

Umgekehrt haben sich einige russische Schriftsteller für „Die Nase“ entschieden. Erwähnt seien Nikolai Gogol und Bruno Jasienski. Die Erzählung des ersteren „ Die Nase“ ( 1836 ) beginnt damit, dass d er Friseur Iwan Jakowlewitsch beim Frühstück in seinem Brot eine Nase findet , die dem 37-jährigen Kollegienassessor Kowaljow gehört, den er rasiert. Erschrocken wirft er die Nase in die Newa. Auf der anderen Seite stellt Kowaljow beim Erwachen fest, dass ihm seine Nase fehlt. Als er sich auf den Weg macht, um dies beim Polizeipräfekten zu melden, trifft er unterwegs in der Uniform eines Staatsrates seine eigene Nase. Er verfolgt sie fassungslos, spricht sie an, wird aber von ihr abgewiesen.

Der polnische Schriftsteller und Kommunist Bruno Jasienski verfasste seine Erzählung „Die Nase“ 1936, sie wurde 2021 auf Deutsch veröffentlicht. Dazu schrieb der Kulturkritiker Georg Seeßlen: D er „russische Satiriker“ persiflierte 100 Jahre nach der Veröffentlichung von Nikolaj Gogols Erzählung „Die Nase“, den deutschen Rassenwahn in der Figur eines nationalsozialistischen Professors für Rassenkunde, der eines Tages zu seiner vollkommenen Überraschung mit einer „jüdischen“ Nase im Gesicht dasteht.

Jasienskis Hauptwerk „Ein Mensch wechselt seine Haut“, handelt vom Bau eines riesigen Bewässerungskanals für den Anbau von Baumwolle in Tadschikistan nahe der afghanischen Grenze, an dem der Autor 1932/33 beteiligt war, wobei er den Schwerpunkt seiner Darstellung auf den Klassenkampf im I nneren und im Ä ußeren legte. Er wurde 1938 in Moskau hingerichtet. In seinem 728 Seiten dicken Buch geht es u.a. um das Abschneiden von kommunistischen Nasen durch die Feinde der russischen Revolution. Die Nase ist kein Riechorgan mehr, sondern ein visuelles Distinktionsmerkmal.

O der auch bloß ein Aufmerksamkeit erheischendes Objekt – wie die goldenen Nasen aus Pappe, die der zugereiste Leipziger Graffiti-Künstler Max Klingeling an die Hauswände seiner neuen Wahlheimat Berlin klebt.

Vertikale und horizontale Wüsten

Das Bergsteigen war ab den Siebzigerjahren Bestandteil von Manager-Fortbildungskursen: Am Seil in einer Steilwand hängend sollten sie das Aufeinanderangewiesensein erleben. Später geriet das auch ins Angebot von Arbeitnehmer-Fortbildungskursen.

Die norwegische Reiseschriftstellerin Erika Fatland legt in ihrem Buch über den Himalaya, „Hoch oben“ (2021), den Verdacht nahe, dass dieser fromme Wunsch nun in Rekorde umgemünzt wurde. Die Autorin brachte es selbst am Mount Everest bis zum Basislager 5364 Meter über N.N., dann blieb ihr die Luft weg. Aber dafür erfuhr sie, dass es 1975 die erste Frau auf den Gipfel (8848 Meter) schaffte, 2013 die erste amputierte Frau, 2005 die erste Eheschließung, 2013 die ersten Zwillinge, 2014 das jüngste Mädchen (13), 2013 der älteste Mann (80), 2017 der erste Krebs-Patient, 2006 der erste Diabetiker (Typ 1), 2010 der erste mit künstlichem Darmausgang, 2001 der erste Blinde, 2006 der erste mit einer Doppelamputation. Er mußte jedoch die Erlaubnis, den Berg zu bezwingen, erst vor dem Obersten Gerichtshof Nepals erstreiten. Dies kam zu dem Schluß: Keinem dürfe der Zugang zum Mount Everest verwehrt werden. Das war vor allen Dingen ein Recht der Sherpas gewesen – sich unverantwortlichen Führungen zu verweigern. Nicht wenige waren in der Vergangenheit „im Berg“ geblieben. Eine der vielen Sherpa-Witwen plant einen Aufstieg, um auf ihre traurige Situation aufmerksam zu machen. Das Tourismusministerium und die Armee sammelten bei einer großen Aufräumaktion allein am Basislager über eine Tonne Müll (danach entmüllten sie noch zwei weitere Lager und den Gipfel).

In der Sowjetunion war das Bergsteigen, aber auch das Hochklettern an Bäumen, Straßenlampen und Hausfassaden fast ein Volkssport. Ab 1939 wurde der noch populärer durch eine Reihe von importierten deutschen Filmen von und mit dem Bergsteiger Harry Piel. Die Partei versuchte gegenzusteuern, eine Schlagzeile der Prawda lautete: „Wider den Harrypielismus“. Zu viele hatten ihre Kletterfähigkeit überschätzt.

Das galt auch für eine kalifornische Studentin, die am Mount Whitney mit dem Fuß in eine Felsspalte geriet und einen Rettungshubschrauber anfordern mußte. Der Pilot war kein anderer als Robert Redford, den sie schon immer verehrt hatte. Ähnlich erging es 1999 der Cousine von Wladimir Kaminer – im Kaukasus. Sie heiratete sogleich den Piloten, der sich jedoch, wenn er nicht gerade flog, als großer Langweiler entpuppte.

Es geht beim Bergsteigen u.a. darum, an die Grenze seiner Fähigkeiten, an das „Limit“, zu gelangen. Dem Südtiroler Bergsteiger Reinhold Messner geriet das zum Lebensinhalt. Er bestieg nacheinander alle 14 Achttausender, durchquerte Grönland und die Antarktis zu Fuß sowie mit 60 die Wüste Gobi – allerdings halb per Anhalter. Sein Buch darüber, „Gobi. Die Wüste in mir“ (2018), ist eine Art Tiroler Existentialismus. Es geht ihm, ein Schloßherr inzwischen, „immer wieder um extreme Herausforderungen“, um eine umweltschonende „Revolutionierung des Abenteuerbegriffs“. Man könnte ihn als einen Ernst Jünger für Ökos bezeichnen. Er hat 96 Bücher geschrieben, ein Bergmuseum gegründet und Filme produziert. In seinem Gobi-Buch schreibt er in gewohnt dramatischem Ton: „Ich darf jetzt keine Zeit verlieren, wenn ich mein Leben nicht verspielen will. Die Wüste ist ungeheuer groß und doch Schritt für Schritt zu durchqueren, wenn ich mir die Hoffnung nicht nehmen lasse und meinem innersten Wesen bis zuletzt treu bleibe.“ Unterwegs hört er Stimmen. „Im Gehen spüre ich, sogar in der Wüste, die Mitte in mir.“ Solch Gespür verhindert leider, die Außenwelt gründlich wahrzunehmen.

Ganz anders die Biologin Carmen Rohrbach (aus dem Greifswalder „Lamarck-Zirkel“), die ebenfalls eine Liebhaberin von „Extremdestinationen“ ist und darüber eine Menge Bücher veröffentlichte: Sie hat die Wüste Gobi „erkundet“. In ihrem Buch „Mongolei“ (2008) schreibt sie: „Man war schnell daheim in der Wüste, weil alle schwierigen Dinge fehlten…Nirgendwo anders als in der Wüste bedeutet Leere zugleich Erfüllung.“ Mittendrin fragt sich die 60jährige, „die beliebteste Reiseschriftstellerin Deutschlands“: Was kommt nach der Mongolei – dem einstigen „Zufluchtsort“ für ihre „Seele“? „Wüßte ich den Tag meines Todes könnte ich meine Kräfte bündeln…Gefährliches wagen, auf das ich aus vernünftigen Gründen verzichtet habe.“

An Gefährliches wagen sich auch immer mehr Tierfilmer (den Sensationswünschen der Medien folgend). Als man den jungen Tierfilmer Andreas Kieling fragte, warum er so an der arktischen Fauna interessiert sei, antwortete er: „Ganz einfach – ich mußte mir sehr genau überlegen, wo es eine Marktlücke gab.“ Der vielgereiste Fernsehproduzent Roger Willemsen berichtet in seinem posthum erschienenen Buch „Unterwegs“ (2020) von einem Gespräch mit einer Stewardess: „Sie gesteht mir in 11.000 Meter Höhe verschwörerisch, auf Langstreckenflügen höre sie Stimmen in den Wolken. ‚Es sind die Toten, die da reden,‘ sagt sie, sie tun es nur über Meeren, Bergen und Wüsten‘. Ich lächele. ‚Das Universum lacht nicht,‘ raunt sie.“

Was den westdeutschen Jungs die Laubsägearbeit im Werkunterricht war für die Mädchen im Handarbeitsunterricht das Stricken – meistens Topflappen, die laut „utopia.de“ „für Strickanfänger bestens geeignet“ sind. Aber einige Mädchen wagten sich auch an Socken, Pulswärmer etc.. An den Pädagogischen Hochschulen, wo die Mehrzahl Studentinnen waren, strickten in manchen Seminaren fast alle. Eine Frau aus Frankfurt meinte neulich: „ I n den 70er Jahren wurde viel gestrickt. Schon allein um die öden – sonst nicht zu ertragenden – Vollversammlungen der linken Hochschulgruppen zu überstehen. Allerdings zeigte sich dann bald, dass das Stricken der Revolution nicht förderlich war. Um sich für einen Diskussionsbeitrag zu melden, musste nämlich das Strickzeug aus der Hand gelegt werden, was leider oft dazu führte, dass Maschen fielen oder der Faden sich verhedderte, also unterblieb meist die aktive Teilnahme an der Diskussion zur Vorbereitung der Revolution, sodass sich der Slogan entwickelte: W er strickt macht keine Revolution!“

Zumindest waren diese Strickerinnen keine Proletarier an Strickmaschinen mehr. Davor waren z.B. in den Strumpfstrickergilden auch nur Männer organisiert gewesen : „Das Handstricken wurde erst weiblich, als es sich finanziell kaum noch lohnte,“ heißt es in Ebba Drolshagens Buch „Zwei links, zwei rechts“. Der BRD-Kanzler Konrad Adenauer erfand, als Ruhiggestellter während der Nazizeit u.a. einen „Stopfpilz“ zum Flicken der Löcher in Socken und Damenstrümpfen: eine ausgebrannte Glühbirne. „Diese Erfindung von Konrad Adenauer hat sich aber nicht durchgesetzt,“ laut Wikipedia. Überhaupt kam das Stricken mit den immer billiger werdenden Strümpfen und Socken langsam aus der Mode, erst recht das Stopfen . Seit den „3 Paar Socken für 5 DM -“Angeboten stop fen nur noch gutbetuchte Müßiggänger die Löcher in ihren Edelsocken .

Als in den Siebzigerjahren Öko, Bio und Landkommunen aufkamen, ging das Stricken wieder los. Etliche Frauen schafften sich sogar Schafe an, die sie schoren und deren Wolle sie dann färbten , versponnen und schließlich verstrickten . Aber nie schafften sie so viel wie ihre Schafe Rohwolle produzierten. Die Bioläden nahmen verbesserte, teure Spinnräder ins Angebot. In Kreuzberg eröffneten einige Frauen Wollgeschäfte – mit Namen wie „Fadeninsel“ und „Wolllust“.

Unter den ersten grünen Abgeordneten in diversen Parlamenten fingen plötzlich auch die Männer an zu stricken. Das war ein „Statement“ . Ein Westb erliner, der das Meditative am Stricken schätzt, schr eibt : „D ie strickenden grünen Geschlechtsgenossen im Bundestag und auf Parteitagen sind ja wohl jedem in Erinnerung“. In Pankow gibt es inzwischen einen „Männer-Wollladen“.

In der Toskana saßen die Frauen auf den Dorfplätzen und strickten Pullover für Neckermann, s ie bekamen 1 8 DM pro Pullover. Ich bekam nacheinander von drei Frauen eine Wollmütze in anthroposophischen Farben, einen langen Schal in Regenbogenfarben und ein paar dicke braune Wollsocken geschenkt. Als ich mich für den Schal bei der Strickerin, die ich auf dem antiautoritären „Tunix-Kongreß“ 1978 kennengelernt hatte, bedankte und dabei noch einmal auf den Kongreß zu sprechen kam, fand ich den Brief in meiner Westberliner Verfassungsschutzakte wieder, die man ab 19 90 einsehen durfte. A llerdings war darin alles bis auf den Brief geschwärzt, der ohne den Dank an die Schalstrickerin in einer linken Kreuzberger Zeitung abgedruckt worden war, und die d as Verfassungsschutzamt anscheinend abonniert hatte .

D ie Reporterin Waltraud Schwab schreibt: „Wer die Geschichte des Strickens verfolgt, stößt immer wieder auf politisch relevante Zusammenhänge.“ Sie behauptet, dass die strickenden Frauen „in ihren Arbeiten auch Geheimdienstinformationen hineinstrickten. Rechte und linke Maschen, das sind die Nullen und Einsen des binären Codes, das Lang und Kurz des Morsealphabets.“ Sowohl im amerikanischen Bürgerkrieg als auch im Ersten Weltkrieg hätten strickende Frauen „in ihrem Gestrick Feindbewegungen weitergegeben“. Man erfährt nicht , auf welcher Seite sie dergestalt mitmischten – auf allen Seiten? Waltraud Schwab sagt nur, dass auch in der Gegenwart Frauen durch Stricken ihre Sicht auf Politik und Krieg zeigen. Das erinnerte mich an afghanische Frauen, die auf ihren nicht gestrickten sondern gewebten Teppichen den Krieg – Flugzeuge, Bomben, Panzer – zeigten. Ihre Arbeiten kosten heute ein Vermögen . Waltraud Schwab denkt jedoch an einen richtigen Panzer im Militärhistorischen Museum Dresden, der von einer Gruppe Frauen komplett eingestrickt wurde.

Ich sehe in Berlin immer mal wieder Straßenbegrenzungspfähle (Poller), die von Unbekannten eing estrickt wurden – und freu e mich jedesmal, denke jedoch: Was für eine Arbeit – und das nur zur Stadtverschönerung an einem so winzigen Ort. Z udem stehen immer noch 4 82.000 unbestrickte Poller in der Stadt rum – und verbreiten Armut und Kälte- Verbrechen. Die gute Nachricht: Die Wollpreise steigen wieder, wegen der Chinesen und weil Wollsachen erneut in Mode gekommen sin d, meldet eines der „S chaffor en“ im Internet.

Neulich wurde mir gesagt in einem Kneipengespräch gesagt, die Naturgesetze sind unumstößlich. Gravitation und Lichtgeschwindigkeit seien deswegen „Fundamentalkonstanten“. Nur in Berlin? Oder auch z.B. in London? Fragte ich. Blöde Frage, bekam ich zur Antwort.

Im Londoner Patentamt fand aber der Botaniker Rupert Sheldrake heraus, dass die Lichtgeschwindigkeit zwischen 1928 und 1945 um etwa 20 Kilometer pro Sekunde sank. Sie sank überall auf der Welt. Aber dann, 1948, stieg sie wieder an. Sheldrake suchte daraufhin den Leiter der Metrologie am National Physical Laboratory in Teddington auf. Er fragte ihn: „Was halten Sie von diesem Rückgang der Lichtgeschwindigkeit zwischen 1928 und 1945?“

Er antwortete: „Oh je, Sie haben die peinlichste Episode in der Geschichte unserer Wissenschaft aufgedeckt.“

Sheldrake: „Kann es sein, dass die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich gesunken ist? Und wenn ja, hätte das ja erstaunliche Auswirkungen.“

Er meinte: „Nein, nein, natürlich kann sie nicht wirklich gesunken sein. Sie ist eine Konstante!“

„Oh, aber wie erklären Sie dann die Tatsache, dass jeder festgestellt hat, dass sie in dieser Zeit viel langsamer geworden ist? Liegt es daran, dass sie ihre Ergebnisse gefälscht haben, um das zu herauszubekommen, wovon sie dachten, dass es andere Kollegen herausbekommen würden, und die ganze Sache nur in den Köpfen der Physiker entstanden ist? “

„Wir benutzen das Wort verfälschen nicht gerne.“

„Und was bevorzugen Sie dann?“

„Nun, wir nennen es lieber ‚intellektuelles Phase-Locking‘.“

„Wenn das damals so war, wie können Sie dann so sicher sein, dass es heute nicht mehr so ist? Und dass die heutigen Werte nicht durch intellektuelles Phase-Locking erzeugt werden?“

„Oh, wir wissen, dass das nicht der Fall ist.“

„Wie können wir das wissen?“

„Nun, wir haben das Problem gelöst.“

„Nun, wir haben 1972 die Lichtgeschwindigkeit per Definition festgelegt.“

Also sagte ich: „Aber sie könnte sich immer noch ändern.“

Woraufhin er entgegnete: „Ja, aber wir würden es nie erfahren, weil wir das Messgerät in Bezug auf die Lichtgeschwindigkeit definiert haben, also würden sich die Einheiten mit ihr ändern!“

Aber Sheldrake fragte weiter: „Und was ist dann mit der Gravitationskonstante, in der Fachwelt als „großes G“ bekannt, Newtons universelle Gravitationskonstante. „Sie hat sich in den letzten Jahren um mehr als 1,3 Prozent verändert. Und sie scheint von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit zu variieren.“

Er sagte: „Na ja, das sind eben Fehler. Leider gibt es ziemlich gravierende Fehler beim großen G.“

„Und wenn es sich wirklich ändert? Ich meine, vielleicht verändert es sich wirklich.“

Danach hat Sheldrake es sich angesehen, wie sie es machen: Sie messen es in verschiedenen Laboren, erhalten an verschiedenen Tagen unterschiedliche Werte und bilden dann den Durchschnitt. Andere Labore auf der ganzen Welt machen das Gleiche und kommen in der Regel zu einem etwas anderen Durchschnittswert. Und dann trifft sich das internationale Komitee für Metrologie alle zehn Jahre oder so und bildet den Durchschnitt aus den Werten der Labore in der ganzen Welt, um den Wert von groß G zu ermitteln.

Aber was wäre, wenn G tatsächlich Schwankungen unterliegen würde? Was, wenn es sich ständig ändern würde? Es gibt bereits Beweise dafür, dass es sich im Laufe des Tages und des Jahres ändert. Was wäre, wenn die Erde auf ihrem Weg durch den galaktischen Raum dunkler Materie oder anderen Umweltfaktoren ausgesetzt wäre, die den Wert verändern könnten? Vielleicht verändern sie sich alle zusammen. Was wäre, wenn diese Fehler gemeinsam ansteigen und abnehmen?

Seit mehr als zehn Jahren versucht Sheldrake, Messtechniker davon zu überzeugen, sich die Rohdaten anzusehen. Außerdem bemüht er sich, sie davon zu überzeugen, „die Daten und die tatsächlichen Messungen ins Internet zu stellen, um zu sehen, ob sie aufeinander abgestimmt sind. Um zu sehen, ob sie zu einem bestimmten Zeitpunkt steigen und zu einem anderen sinken. Wenn ja, könnten sie gemeinsam eine Schwankung aufweisen. Und das würde uns etwas sehr Interessantes sagen.

Aber niemand hat das getan, weil G eine Konstante ist. Und somit hat es also keinen Sinn, nach Veränderungen zu suchen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass eine dogmatische Annahme die Forschung wirklich behindert.“ Fazit: In London wie in Berlin besteht man auf feste Naturgesetze, aber damit lügt man sich nur in die Tasche. Nichts ist konstant!

Früher war das eine Lehreinheit im Werkunterricht. Aber auch Zuhause wurde das Arbeiten mit der Laubsäge aufs Angenehmste gefördert. Das ist heute kaum noch vorstellbar, da man noch viel Pingeligeres inzwischen gewohnt ist: bei dem ganzen Elektronikzeug. Deswegen lohnt sich ein Blick zurück. Zumal, wenn nicht vergessen werden soll: „A uch in der ehemaligen DDR gehörte das Laubsägen zu den beliebten Freizeitbeschäftigungen. Viele Dinge wurden, auch aus praktischen Gründen, gerne selber hergestellt. Durch die Mangelwirtschaft in der DDR haben viele Menschen eigene Ideen mit handwerklichen Arbeiten umgesetzt. Hierbei waren besonders die DDR-Laubsägeblätter bei den Bastlern hilfreich und beliebt. Die Qualität der Laubsägeblätter war ausgezeichnet. Besonders beliebt waren bei Laubsägeblättern die Rundsägeblätter von z.B. VEB MLW Medizinmechanik Suhl. Heute, nach über 20 Jahren, sind Laubsägeblätter aus der DDR nur noch selten zu bekommen. Wenige Restposten werden noch angeboten. Die Preise steigen.“

Angeblich sollen anonyme Amis zuletzt das größte Kontingent aufgekauft haben. In den USA finden regelmäßig landesweite Wettbewerbe um die schönste Laubsägearbeit statt. 2019 gewann auf nationaler Ebene der 57jährige Textil arbeiter Dan Wirtz aus Wisconsin mit einer Laubsägearbeit, die die Köpfe der drei letzten US-Präsidenten zeigt.

Neuerdings gesellt sich zu diesen Bastlern mit der Laubsäge noch eine ganz andere Spezies. Sie rückt den beim Fällen eines Baumes stehen gelassenen St ammrest mit einer Motorsäge zu Leibe, um daraus ein mehr oder weniger kitschiges Kunstwerk zu schaffen: Beliebt sind Adler, Wölfe und nackte Frauen. Mit letzterer, die einen Säugling vor der Brust hält, gewann der ehemalige Waldarbeiter Sidney Bausch aus Oregon 2020 die „goldene Motorsäge“ (aus Holz) und 10.000 Dollar . Dafür kommt die aus dem Baumstumpf gesägte Nackte mit Kind nun mitsamt ihrer Baumwurzel in das Werkstoff-Holz-Museum von Seattle.

In Westd eutschland sah sich so etwas zuletzt auf der Lichtenburg bei Ostheim in der Rhön. Die Veranstaltung nannte sich “7 Tage – 7 Stämme”. Der CSU-Landrat von Rhön-Grabfeld, Thomas Habermann, bat die anwesenden Künstler in seiner Eröffnungsrede, wenn sie schon ihren dicken Pappelstämmen derart effizient zu Leibe rückten, dann doch bitte auch noch gleich die Bäume um die Burg herum zu kappen, damit man die inzwischen teilrekonstruierte Ruine wieder vom Tal, von Ostheim aus, sehen könne. Er schlug damit einen kühnen Bogen von den ehedem nützlichen Holzschnitzereien der Region zum eher zweckfreien heutigen Holzkunstwerk. Ob seiner unökologischen Bemerkung wurde er jedoch vom umweltbewußten Teil der Besucher erst ein mal gescholten.

Ein anderer Redner dort , ein Kunsthistoriker aus Würzburg, erinnerte an den Semi o logen Roland Barthes, der die Metasprache, die in der Stadt gesprochen wird, von der Objektsprache – auf dem Land – unterschied: Die erste Sprache verhalte sich zur zweiten wie die Geste zum Akt. Die erste sei intransitiv und bevorzugter Ort für die Einnistung von Ideologien, während die zweite operativ und mit ihrem Objekt auf transitive Weise verbunden sei.

Als Beispiel erwähnte Roland Barthes den Baum: Während der Städter über ihn spricht oder ihn sogar besingt, da er ein ihm zur Verfügung stehendes Bild ist, redet der Landbewohner von ihm – gegebenenfalls fällt er ihn auch. Und der Baum selbst? Wenn der Mensch mit einer Axt in den Wald kommt, sagen die Bäume: “Sieh mal! Der Stiel ist einer von Uns.” D a s behaupten jedenfalls die Waldarbeiter im Haute Savoie.

F ür die Laubsägearbeiter braucht man dünne und weiche Holzplatten. Sperrholz aus Birkenstämmen z.B.. 2015 erschien – wie aus heiterem Himmel – ein Buch von Armin Täubner: „Laubsägen für Jungs“ – w ährend amazon unter „Laubsägen für Mädchen“ schon lange allerlei Bastel-Werkzeug für Kinder bis hin zu einer Kettensäge anbietet. Diese funktioniert „elektrisch mit Musik“ und ist für „Kinder ab 3 Jahren“ geeignet. Man sieht auch hieran wieder, wie die Laubsäge-Arbeit von Jungs übergeht in die Kettensäge-Kunst von Mädchen.

Und in der Tat sah man auf der Lichtenburg bei Ostheim gleich mehrere junge Künstlerinnen, die sommerlich im Bikini, aber mit dicke n Ohrenschützer n ihre Stämme mit handlichen Motorsägen bearbeiteten.

Auf eine r wettkampfähnlichen Veranstaltung der Holzbildhauer der thüringischen Holzschnitzschule in Empfertshausen, wo man gerne Tierplastiken anfertigt e und immer noch anfertigt , hatte sich zuvor einer der Teilnehmer noch geweigert, seinen Stamm mit einer Motorsäge zu bearbeiten: „ Ich bin Schnitzer und kein Waldarbeiter,” erklärte er . Die Schnitzkunst hat zwischen Laubsäge- und Motorsäge-Kunst überlebt – ist aber selten geworden, zumal es immer mehr computergesteuerte Schnitzmaschinen gibt.

Als ich das erste Mal das Wort las, verstand ich darunter zunächst metaphorische Trennstäbe – z.B. durch den Warenpreis, der die Verbraucher nach ihrem Einkommen trennt, in: sagen wir Bio-Supermarkt- und Billig-Großmarkt-Kunden. Aber dann stieß ich auf eine „Warentrennstabverordnung“: „Die Warentrennstabverordnung regelt die Zuständigkeit des Kunden, seine Waren ordnungsgemäß von den Waren der nachfolgenden Person zu trennen. / Jeder Kunde ist verpflichtet, das Ende seiner Kassenbandwarenlegeaktivität durch das Setzen des Warenstabs hinter seine Waren, eindeutig zu markieren./ Sollte der Kunde dies vergessen, ist er von der nachfolgenden Person freundlich auf seine Pflicht hinzuweisen./ Sollte er sich weigern dieser Aufforderung nachzukommen, erklärt er sich damit bereit, die Waren des nachfolgenden Kunden zu bezahlen.“

Ich hielt das für einen Witz. Aber dann passierte mir genau das: Weil am Fließband der Kasse in der „Kaufhalle“ gerade kein Trennstab greifbar war, trennte ich das Ende meiner Waren nicht ab – und schon war die Kassiererin dabei, die Waren einer hinter mir stehenden Dame auf meine Kosten zu scannen. Die Dame war nicht erfreut, dass ich das Band anhalten ließ. Am Ende der Kasse drückte sie mir obige „Verordnung“ in die Hand. Die Kassiererin setzte noch einen drauf, indem sie mir sagte: „Immer gut abtrennen die Ware. Mit Warentrennern, so heißen die offiziell.“ Ich ärgerte mich über die Pädagogik der Dame, die am Band nichts gesagt hatte.

Später fiel mir eine Umfrage des Schweizer Lebensmittelkonzerns Migros in die Hände, in der festgestellt wurde, dass die meisten Deutschen erwarten, dass sich der Kunde hinter ihnen selbst um die Stabsangelegenheit kümmert. Mein Verhalten am Band der Supermarktkasse war also quasi deutsch.

In der Schweiz ist es umgekehrt, lese ich auf „brigitte.de“: „Dort wird erwartet, dass jeder seine Einkäufe mit dem Warentrenner selbst nach hinten ‚abschließt‘. Auch aus Verkäufersicht ist es eher praktisch, wenn die Kunden selbst die Verantwortung für die Grenzziehung zum Hintermann übernehmen.“

Auf Wikipedia werden die Warentrenner „Warendifferenzierungsmodule“ genannt, was trotz des aufgeblasenen Wissenschaftsjargons falsch ist, denn mit dem Trennstab werden ja nicht die Waren, sondern die von ihren zukünftigen Besitzern, den Endverbrauchern, vor sich aufs Band gestellten, unterschieden. Die Waren sind oft die gleichen, zwei industriell hergestellte Tüten Zucker kann man nur in bezug auf die Anspruchnahme ihrer potentiellen Besitzer am Band diferenzieren.

Wikipedia fügt in seinem Eintrag über den „Warentrenner“ hinzu, dass man ihn nicht mit dem „Warenteiler im Supermarkt-Regal“ verwechseln darf. Zur Handhabung der Grenzziehung mittels Warentrenner heißt es: „Der Warentrenner wird einer schienenförmigen Ablage entnommen und zwischen den selbst zu kaufenden Waren und denen der nachfolgenden Person platziert. Beim Kassierer angekommen, wird der Warentrenner von diesem wieder auf die Schiene gelegt und entgegen der Laufrichtung des Bandes zurück in Richtung der nachfolgenden Kunden geschoben.“

„Gestoßen werden sie. Anders habe ich das noch nie erlebt, als das die Kassiererinnen den Warentrenner mit Schwung in die schienenförmige Ablage befördern. Das Klacken der aufeinanderprallenden Warentrenner macht einen anderen Ton als das ewige Piepen des Scanners. Wenn in den großen Supermärkten alle Kassen besetzt sind, ergibt das ein ganzes Piep-Konzert.

Von einem Supermarkt-Architekten, der nach der Wende jede Woche einen neuen einweihte, erfuhr ich, dass NCR und andere Kassenhersteller jedes Jahr ein neues Modell auf den Markt bringen müssen, weil die Kassenbediensteten, und auch die Kellner, spätestens dann raus haben, wie man damit etwas beiseite schafft. Die Supermärkte würden im Übrigen aus den selben Gründen auch die Fluktuation ihres Personals begrüßen, weil die Leute eine Weile brauchen, um sich in allen Abläufen auszukennen.

Worauf ich noch nie geachtet habe bei den Warentrennern, dass ist die Werbung auf ihnen, die „ursprünglich“ laut Wikipedia werbefrei waren. Seit 2008 „werden auch sie als Werbefläche genutzt, dazu manchmal noch eine Werbeaufsitzer. Ein dreieckiger Warentrenner aus Plastik hat drei Werbeflächen.

Vor einiger Zeit empfahl das „Jetzt“-Magazin der Süddeutschen Zeitung seinen Lesern den Begriff „Warenstopper“. Unter „Warentrenner vom Hersteller kaufen“ erfuhr ich, dass sie – aus Polycarbonat – bei der Firma VKF Renzel 3 Euro 79 das Stück kosten.

Diese Firma scheint sie jedoch nicht selbst herzustellen, denn auf Wikipedia heißt es: „Die Unternehmensgruppe VKF Renzel ist ein internationaler Hersteller und Business-to-Business-Versandhändler von Verkaufsförderungsartikeln und Produkten zur Ladenausstattung, Regaloptimierung und Preisauszeichnung mit Hauptsitz in Isselburg.“ Einige weitere Interneteinträge legen nahe, dass die Warentrenner aus China kommen.

Die Westdeutsche Zeitung berichtete aus Düsseldorf: „Drei Päckchen Milchpulver wollte ein Chinese bei Rossmann kaufen. Doch die Verkäuferin weigerte sich, ihm die Ware zu geben. Es gebe eine Abweisung der Geschäftsleitung, Milchpulver an Chinesen nur unter Auflagen zu verkaufen. Der 31-Jährige rastete völlig aus. Er nahm einen Warentrenner von der Theke, schlug damit auf den Kopf der 25-Jährigen ein.“

Vor etwa 20 Jahren verschwanden die Kleidungsstücke aus reiner Wolle und aus Baumwolle, stattdessen sind fast allen Stoffen nun Kunstfasern beigemischt. Die ganz billigen Textilien, wie sie u.a. von kik und primark angeboten werden, bestehen fast nur aus Plastik, das verschiedene Namen hat. Auf 500 Seiten hat der US-Historiker Sven Beckert die weltbewegende Rolle der Baumwolle beschrieben: „Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. King Cotton“ (2014) . Sie reicht vom „Kriegskapitalismus“, der mit Gewalt den Baumwollanbau durchsetzte, bis zu seiner Ablösung durch den „Industriekapitalismus“ infolge der Baumwollsklaven-Befreiung in den Südstaaten der USA.

Es ist ein lehrreiches Buch (anders als „Weisse Plantagen“ von Erik Orsenna), obwohl es mit dem idiotischen Satz endet: „Schließlich erschafft die kapitalistische Revolution unsere Welt ständig neu, so wie die Webstühle der Welt unablässig neuen Stoff produzieren.“ Nicht zu vergessen: auch die Entkörnungsbetriebe, Spinnmaschinen und Nähfabriken (in denen Millionen junge Frauen fast sklavisch Kleidungsstücke herstellen). Ihnen und der Technik ist es egal, ob sie tierische, pflanzliche oder chemische Fasern verarbeiten. Es müssen in jedem Fall Fäden versponnen, verwebt und vernäht werden.

Aber „während Hemden und Blusen etwa für den deutschen Markt vor einem Jahrhundert vielleicht in einer Werkstatt in Berlin oder Frankfurt aus Stoff genäht wurden, der in Sachsen aus amerikanischer Baumwolle gewebt wurde, bestehen sie heute aus chinesischer, indischer, usbekischer oder senegalesischer Baumwolle, die in China, Pakistan oder der Türkei gesponnen und gewoben und dann in Bangladesch oder Vietnam vernäht werden.“ Diese Produktionsstätten werden nicht mehr von Fabrikanten, Baumwoll- und Stoffhändlern zusammengehalten, sondern von riesigen Handelsketten wie ‚Wal-Mart, Metro oder Carrefour, die ihre Kleidung bei den billigsten Anbietern kaufen.

Es ist noch nicht lange her, dass die Wollpreise so tief gesunken waren, dass die Schäfer die Wolle ihrer Schafe verbrannten, aber geschoren werden mußten ihre Schafe. Man begann darüber nachzudenken, ihnen die Wolle wieder wegzuzüchten, um aus ihnen reine Fleischschafe zu machen. In den letzten Jahren stiegen die Wollpreise jedoch wieder, da China Riesenmengen importierte, zudem kamen Wollsachen wieder in Mode und viele australische Schafzüchter gaben auf.

Ich komme aus Bremen, das traditionell ein Handelsschwerpunkt für Wolle und vor allem Baumwolle war. Es gibt dort immer noch eine „Baumwollbörse“ – als Verein zur „ Wahrung und Förderung der Interessen aller am Handel mit und der Verarbeitung und Veredelung von Baumwolle und Baumwollprodukten sowie sonstigen Textilfasern und Textilfaserprodukten Beteiligten.“ Man ist dort also offen geworden z.B. auch für Kunstfaser. Nur gibt es in weitem europäischen Umland kaum noch Spinn-, Web- und Nähfabriken.

Darunter leidet auch die Bremer Woll-Kämmerei AG. „ Sie war weltweit lange Zeit das größte Unternehmen ihrer Art – mit Niederlassungen in der Türkei , Australien und Neuseeland.“ Alle drei Länder haben eine ausgesprochene Schafkultur, die beiden pazifischen verkaufen ihre Tiere heute jedoch zum größten Teil als Schlacht vieh nach Arabien . Tierschützer möchten ihre riesigen Überseetransporte, mit bis zu 100.000 Schafen auf einem Schiff, verbieten. Von der Bremer Wollkämmerei AG blieb im Wesentlichen nur die BWL Chemiefaser GmbH. Heute werden laut Beckert 75 Millionen Tonnen chemische Fasern hergestellt (u.a. von Bayer und BASF) – mehr als doppelt so viel wie die weltweite Baumwollproduktion beträgt .

Die größte Baumwollbörse – in Liverpool – gab auf, ihre kostbare Einrichtung wurde versteigert. In den USA und in England wurden massenhaft Baumwollfabriken geschlossen – und z.T. in Baumwollmuseen umgewandelt. Die letzten US-Baumwollfarmer werden vom Staat subventioniert: „2001 mit 4 Milliarden Dollar – 30% mehr als der Marktwert ihrer Ernte“. Auch die Reste des englischen „Baumwollkomplexes“ sind von staatlicher Hilfe abhängig.

D ie großen Baumwollfabriken in Bombay wurden in den Süden verlagert, wo die Arbeiter weniger verdienen. Indien hat ein Spinnrad in seiner Flagge . In den letzten Jahren begingen dort 200.000 kleine Baumwoll-Anbauer Selbstmord, weil sie sich mit dem genveränderten Monsanto-Saatgut verschuldet hatten. Der Baumwollanbau ist überdies chemieintensiv und verbraucht viel Wasser.

D ie westlichen Textilu nternehmer träumen von F abriken auf Schiffen, die, wenn ihre Arbeiter sich gewerkschaftlich organisieren und höhere Löhne verlangen , einfach in Billiglohnländern anlegen. In Berlin-Zehlendorf gab es eine große Spinnstoffabrik, wo wir als Studenten gerne jobbten – bis 1973: Da putschte Pinochet mit Hilfe der CIA und die „Spinne“ wurde nach Chile verlagert, wo die Arbeiter nur noch 90 Pfennig pro Stunde verdienten.

M an sprach von den „Naturgesetzen des Marktes“, denen man nicht entkommen kann, umgekehrt spricht heute die Heidelberger Genetikerin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard davon, “dass die Natur in gewisser Weise kapitalistisch funktioniert“. Das eine ist so dämlich wie das andere – dem “ Geist der Profitmacherei“ geschuldet, der laut Marx auch schon die große englische Evolutionstheorie beflügelte: „ Darwin hat darin bloß die schlechten Angewohnheiten der englischen Bourgeoisie auf die Natur übertragen,“ spottete er.

Bei der „Reformbühne Heim&Welt“ brauchte man anfangs in einem Text nur das Wort „Handy“ erwähnen – und man erntete Lacher. Wenig später war es nur noch lustig, wenn ein Penner in der U2 einen Handynutzer imitierte, indem er laut in eine zerknautschte Bierbüchse sprach: „Ich bin jetzt an der Eberswalder, und in 10 Minuten am Alex, ja, drei Haltestellen noch…“ Seit dem erweiterten Smartphone macht niemand mehr in de U2 einen Witz über sie, weil alle in solch einem Gerät rumtippen, scrollen etc..

Nach dem 11.September meinte der Regisseur Peter Zadek: „Wir sind in den Händen von Mördern und Dieben und laden jeden Tag unsere Handys auf.“ Die Schriftstellerin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar schreibt in ihrem Buch „“Ein von Schatten begrenzter Raum“ (2021): „Zadek sagte, als die Handys die Hauptrolle bekamen: ‚Ein Welt voller Verrückter‘“ Sie traf dann in den verschiedenen Ländern „sehr oft Handyverrückte“: In London war es einer, der mit der Hand am Ohr laut ein Handygespräch imitierte. In Spanien war es einer, der ein altes rotes Telefon auf dem Arm trug und allen Passanten eine Gesprächsmöglichkeit damit anbot. Auf einer kleinen türkischen Insel war der Handyverrückte einer, der sich von den Leute im Café ein Handy lieh und ohne eine Nummer zu wählen laut sagte: „‘Mama, was gibt es zum Abendessen?‘ und machte seine Mutter nach, die Antwort seiner Mutter ‚Papalina, papalina, Fisch‘.“

Der Regisseur Jean-Luc Godard drehte zuletzt einen Film, der von einem Hund handelt und „Abschied von der Sprache“ hieß . In einem Interview mit der „Zeit“, in dem es u. a. darum ging, warum er weder ein Mobiltelefon noch einen Computer braucht, wurde er gefragt: Schauen Sie denn wenigstens fern? „Selten. Manchmal Tierfilme auf der BBC, in denen Menschen Monate damit verbringen, um einem Käfer oder einer Haselmaus nachzustellen.“ Was ist Ihr nächstes Filmprojekt? „Die Geschichte eines Paares, das sich sehr gut versteht. Und das sich besser versteht, sobald es einen Hund hat.“ Im Drehbuch sind ja bereits Photos…Und da ist auch ein Hund … ,,Das ist unser Hund.“ Welche Rasse? „Keine Rasse.“ Verstehen auch Sie und Ihre Frau sich besser, seit Sie den Hund haben? „Nun, er tut uns gut.“ Weil Sie manchmal über den Hund miteinander kommunizieren? „Sehr oft sogar. Sehen Sie, ich brauche wirklich kein Mobiltelefon.“

Es ist aber so verdammt praktisch. Meine Freundin hat ein Smartphone. Wie oft googeln wir nach einem Fremdwort oder Zitat oder mit einer Pflanzenbestimmungs-App nach dem Namen eines Vorgarten-Gewächses. Nur leider gehen diese Scheißdinger immer schon kurz nach Ablauf der Garantiezeit kaputt. In der Mittelklasse kostet ein Smartphone laut Wikipedia zwischen 200 und 500 Euro, Oberklassemodelle sind preislich ab 600 Euro angesiedelt. Die neuesten Geräte kosten mittlerweile über 1000 Euro. Aber das Schlimmste ist, wenn man alle möglichen Dinge mit dem Gerät erledigt, die Daten aufs neue Gerät zu übertragen. Die Experten nehmen dafür noch mal einige hundert Euro. Bei den früheren Handys war das einfacher, aber sie werden von den großen Elektroläden gar nicht mehr verkauft.

Ein „geplanter Verschleiß“, um damit die Betriebsdauer zu verkürzen, sollte im Zuge der Maßnahmen zur Verlangsamung der Klimaerwärmung nicht mehr vorkommen dürfen. In den USA wurde Apple deswegen einmal juristisch belangt. Hierzulande häufen sich im Internet noch die Mutmaßungen über „planned obsolescence“ bei den Smartphones.

Ebenfalls zur ökologischen Auseinandersetzung über diese Hightech-Geräte gehör t ihre Funk strahlung . D ie Kreuzberger Imkerin Rita Besser bemerkte vor einiger Zeit eine seltsame Verhaltensänderung bei ihren Bienenvölkern, deren Kästen auf dem Dach standen: „Sie wurden immer aggressiver, im Winter ist mir dann ein Volk eingegangen.“ Die Ursache dafür sieht sie darin, daß ein Mobilfunk-Sendemast auf dem Dach des Nachbarhauses errichtet wurde. Ihr Mann, der eine Ausbildung als Baubiologe macht, beschäftigte sich dann näher damit. Er meint: „Ihre Fühler wirken wie Antennen, das macht die Bienen verrückt. Die Stöcke standen ja nur 10 Meter Fluglinie entfernt von dem Mast – das war zu nahe. Die können von den elektromagnetischen Wellen sterben.“

Obwohl die Industrie und ihre Forscher das abstreiten, gibt ihm eine Broschüre des Kreuzberger Stadtteilausschusses mit neuen Forschungsergebnissen über diesen Elektrosmog recht: „Informationen zu Mobilfunk und UMTS“. Ein neuseeländischer Forscher meint darin: „Die Handys werden innerhalb der nächsten 10 bis 20 Jahre mit hoher Wahrscheinlichkeit die Fallzahl vieler neurologischer Krankheiten sowie der Gehirntumore ansteigen lassen.“ Ich machte ein unfreiwilliges Experiment mit einer großen Yucca-Palme, die im Raum neben einem Kabelmast stand. Als daran ein „Router“ für den Internetempfang befestigt wurde , starben rings um dieses Gerät die Blätter.

Als ich in Oberhessen wohnte, spazierten wir manchmal zur Burg Steckelberg, dazu gehörte auch ein Schloß, beides war damals im Besitz von einem Sohn des Freiherrn von Kühlmann-Stumm, der bekannt wurde als Überläufer von der FDP zur CDU, weil er mit der SPD-Ostpolitik nicht einverstanden war – und damit die Rot-Gelbe Koalition torpedieren wollte. Sein Sohn hatte mit Politik nicht viel zu tun, er hatte einen adligen Saufclub mitgegründet, dessen Abzeichen eine geschwollene Leber in Gold war. Mit Bürgerlichen (die, die im Schutz der Burg leben) soff er nicht, weil sie dabei „entweder aggressiv oder sentimental“ werden.

2014 verkaufte die Familie das Schloß für 7 Millionen Euro (?) an einen chinesischen Mill i onär, der versprach, „das historische Erbe von Schloss Ramholz zu pflegen“ . Auch die „Huttenburg“? Einst gehörte der ganze Komplex der Familie von Hutten, deren bekanntester Sproß der Ritter Ulrich von Hutten (1488-1523) war: „der erste (deutsche) Journalist“. Er gehörte zum Kreis der Humanisten und wurde mit einem Fake bekannt, der laut Wikipedia „ große Nachwirkungen“ hatte: die sogenannten „Dunkelmännerbriefe“. Sie richteten sich gegen die Scholastiker, in Sonderheit die verbohrten Dominikaner (die scharfen Hunde Gottes), die er in ihrem „Küchenlatein“ mit Spott überzog, u.a. weil sie dafür plädierten, die jüdischen Schriften, vor allem den Talmud, zu verbrennen. Die 110 fiktiven Briefe der Mönche an ihren Ordensoberen wurden von einigen Dominikanern selbst für wahr gehalten, 1520 verbot Papst Leo X. ihre weitere Verbreitung.

Von Ulrich von Hutten gibt es eine Linie bis zu den heutigen „Fakern“ – beispielsweise zum Künstler Ernst Volland, auf den ich hier noch einmal zurückkomme, denn der Kunstvermittler Bazon Brock hat gerade anläßlich einer Ausstellung von Volland in Güstrow einen Katalogband „Einblicke in das Gesamtwerk von Ernst Volland“ veröffentlicht. Darin heißt es: „Faker sind Leute, die bekennen, daß das, was sie tun, falsch ist. Aber das als falsch Erkannte ist ja wahr.“ Und konkret auf den Künstler bezogen: „Ein Mann wie Ernst Volland ist jemand, der Gerechtigkeit einklagt als das, was eine Gesellschaft trägt.“ In anderen Worten: Volland ist in Wort, Bild und Aktion ein linker Kritiker. So auch seine Verarschung des künstlerischen Kommerzes der „Jungen Wilden“, indem er einen solchen Wilden kreierte, der es bis in die Nationalgalerie schaffte: „Wenn sie da Vollands großes Pseudogemälde ‚Blaise Vincent, Sprung von der Siegessäule‘ sehen, so ist das ein Beispiel für die Strategie der kabarettistischen Vernunft, die auf den Begriff der wahren Falschheit eingeht,“ schreibt Bazon Brock, für den die „kabarettistische Vernunft“ und „die ironische Distanz“ heute mit dem Begriff des Fake verbunden ist. Volland sei kein Künstler, meint er, „der seine eigenen künstlerischen Interessen in die Öffentlichkeit bringt, damit alle sagen: Oh, ein großer Künstler!“ Sondern einer, „der glaubhaft macht, dass das, was er sagt, für die Menschen wichtig sein kann.“

Bazon Brock heißt eigentlich Jürgen Brock, aber er nahm den von seinem Lehrer im altsprachlichen Gymnasium abfällig gemeinten Namen „Bazon“ (griechisch: der Schwätzer) auf sich. Und in der Tat kommt mir auch sein Buch über Vollands Fake-Kunst geschwätzig vor. I n seiner Kreuzberger „Denkerei“ hat er manchmal aber auch gezeigt , dass er riesige Themen und Zeitspannen kurz und knapp abhandeln kann. Zum Beispiel das Thema „Evolution und Mathematik“: „Der Urknall war physikalisch-chemisch – naturgesetzlich. Erst die Bakterien gehen raus aus Physik und Mathematik – sie emanzipieren sich quasi von den Naturgesetzen. Der Mensch geht dann aber wieder rein – und weitet sie aus: auf eine künstliche Natur. Das beginnt mit Pythagoras…Und endet mit 1 Punkt 1 Pixel. Aber mit der Quantenphysik ändert sich wieder alles.“

Letzteres möchte ich bezweifeln, aber es geht hier um Fakes und um einen zeitgenössischen Faker. N achdem Bazon Brock die Geschichte des Designs, der Arbeiterbildungsbewegung, der künstlerischen Freiheit (obwohl es „keine Kunst mehr gibt, nur noch Markterfolge“) , das Grundgesetz, Gerhard Richter, Habermas, die Einzelkämpfer, und Darwin mitsamt d en Säugetiere n umrissen hat, kommt er zu dem Ergebnis: „Ich kann das Volland‘sche Werkverzeichnis nur empfehlen. Das ist ein Band, der Sie entschädigt für sechzig Jahre Unaufmerksamkeit…“ Am Ende seiner Rede, das war der Katalogtext wohl zunächst, ruft er: „Volland lebe hoch, hoch und höher!“ Mit dem, den er hier hochleben läßt, verbindet ihn übrigens eine gewisse Vorliebe für texanische Halbstiefel. Aber das sind menschliche Schwächen. Ich kenne auch einige Frauen mit dieser Vorliebe.

Die Ökonomie, die als Basis all unserer Überbau-Aktivitäten galt, ist nach oben gerutscht und ins Gerede gekommen, seit das ökologische Denken, die gute alte Ökologie (eine geduldige Unterdisziplin der Biologie) mit dem „Klimawandel“ (hervorgerufen durch den steigenden CO2-Gehalt in der Atmosphäre) zwingend und dringend geworden ist.

Plötzlich wird jeder zu irgendetwas gezwungen. Autofahrer müssen Radfahrern weichen, Autofabriken auf Elektroautos umstellen, die Energiequellen Kohle, Öl, Gas sind plötzlich lebensfeindlich geworden, die industrielle Landwirtschaft wird mit ökologischen Bedenken geradezu in einen Würgegriff von Restriktionen genommen.

Und die selben Bedenkenträger zwingen der auf Expansion angelegten Wirtschaft generell immer neue Begriffe auf, die sie einschränken: Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung, Recycling, Abfalltrennung, Sondermüll, Humusverlust, Vermeidung von Gifteinsätzen gegen Unkraut und Ungeziefer (ja Vermeidung dieser Un-Wörter sogar), Jagd- und Pelzzucht-Verbote, Zirkus-Wildtier-Verbot usw..

Anfangs behalfen sich einige Branchen noch mit dem sogenannten „Greenwashing“, d.h. mit bloßen Etikettenschwindel. Noch immer faßt man sich bei so manchem „Öko-Siegel“ und „Grünen Punkten“ auf Luxusgütern an den Kopf. Aber die Einschränkungen der Wirtschaft durch die grünen Verbotsparteien und Bewegungen lassen immer weniger Augenwischereien und Ausflüchte zu – angesichts dessen, was die „ökologische Krise“ genannt wird. Im Grunde weiß hienieden keiner, „wie er sich dauerhaft aus der Affäre ziehen soll,“ schreibt der Wissenssoziologe Bruno Latour, der uns in seinem Buch „Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“ (2021) als „Erdverhaftete“ bezeichnet – in Opposition stehend zu den reichen Vielfliegern mit dem höchsten CO2-Verbrauch, wie Elon Musk, die auf den Mars ausweichen wollen.

Für die Erdverhafteten gehen jetzt drei Jahrhunderte der Ökonomisierung all ihrer Lebensäußerungen zu Ende, meint Latour, „diesmal geht es nicht mehr nur darum, das ‚Wirtschaftssystem‘ zu verbessern, zu verändern, grün anzustreichen oder zu revolutionieren, sondern darum, ganz und gar ‚auf die Ökonomie zu verzichten‘. Paradoxerweise – und das freut die Erdverhafteten – bewirkt ausgerechnet die Episode der Corona-Pandemie, dass der Geist der Eingeschlossenen ‚befreit‘ und ihnen einen Augenblick lang erlaubt wurde, der langen Haft im ‚stählernen Gehäuse‘ der ‚ökonomischen Gesetze‘ zu entrinnen, in dem sie geschmachtet hatten. Wenn man sich je von schlechter Emanzipation emanzipiert hat, dann in diesem Fall.“

Dieser „Fall“, das war in Frankreich der besonders „harte Lockdown“. Und der Latoursche Ökonomie-Verzicht zielt auf den „Homo oeconomicus“, von dem schon seit langem bekannt ist, dass er nichts „Urwüchsiges, Autochthones“ hat. Er kommt „von oben, top down, und geht in keiner Weise von der gewöhnlichen, praktischen Erfahrung aus, from the ground up, also von den Beziehungen, die Lebensformen mit anderen Lebensformen unterhalten.“ Latour ist ein Basisdemokrat, der auf Verhandlungen setzt – und zwar mit allen, auch mit Dingen.

Die Berufspolitiker veranstalten seit etlichen Jahre „hochkarätige“ Klima-Konferenzen, auf denen sie z.B. um das „Ziel“ ringen, noch vor 2030 die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Ihr Top-Down-Realismus ist der Ökonomie geschuldet – und nur allzu plausibel, denn was soll z.B. mit all jenen geschehen, deren Arbeitsplätze zugunsten jenes Ziels verboten werden, d.h. wegfallen – so wie die Parkplätze?

Der Naturschutzbund appellierte gerade radikal ökologisch an die Berliner Politiker, keine Brachflächen mehr dem Wohnungsbau zu opfern. Es gäbe bereits genug Wohnungen (ein kühne Behauptung!) , aber schon jetzt zu wenig unbebaute und ungenutzte Flächen für Wildtiere und – pflanzen. Zudem sei der „Bausektor einer der schlimmsten Klimasünder“. Das wird die dem Fortschritt verpflichteten bürgerlichen Politiker nicht zum „Umdenken“ bringen , denn sie bemühen sich ja gerade, all jene zigtausend Wohnungen in Plattenbauten, die sie vor zehn Jahren niederreißen ließen (zugunsten eines investitionsfreundliche re n Wohnungsmarktes), durch Neubauten für die vielen neuen Wohnungsuchenden zu ersetzen.

Abgesehen davon würde das Baugewerbe in der Stadt, und damit tausende Arbeitsplätze, durch den Nabu- Appell, sollte er den n fruchten, so gut wie verschwinden. Und so ist es bei allen Eingriffen in die Ökonomie zugunsten der Ökologie: Es geht dabei immer um Einschränkung bzw. Abwicklung . Aber wie und und was und von oben oder von unten?

Also favorisiert die Politik als geschäftsführender Ausschuß der Wirtschaft, des Kapitals, vor allem solche Öko-Ideen (-Projekte), die ökonomisch profitabel sind oder mindestens versprechen, es zu werden. Damit alles in etwa so weiter läuft wie bisher.

Sex and Drugs and Rock‘n Roll

Man kann vielleicht sagen, dass Friedrich Kittler, der berühmteste Professor der Humboldt-Universität nach 89, ein Gutteil seines Forscherlebens diesem „modernen Trivium des dionysisch-ekstatischen Komplexes“ (F.J. Raddatz) aus den Sechzigerjahren gewidmet hat.

Mit dem Rock‘n Roll meinte Kittler vor allem Jimi Hendrix und Jim Morrison, aber auch die Beatles und Rolling Stones. Von diesen zog er eine genealogische Linie zur Antike und lernte/lehrte sogar Griechisch – bis er in seinem 2012 erschienenen Band „Das Nahen der Götter vorbereiten“ zu dem Ergebnis kam, „dass uns die Popstars die Götter wiederbringen“ – nämlich die verwandlungsfähigen griechischen (um mit dem ganzen Christentum- und Ami-Identitätssscheiß Schluß zu machen).

„Der empirische Beweis dieser Tatsache sind“ laut Kittler „die Groupies. Sie schlafen mit den Göttern, weil die Musiker Götter sind.“ Zwar schwärmte er auch von Sappho und den freien Frauen in Sparta (bevor es eine Militärdiktatur wurde), aber den weiblichen Popmusikern von heute konnte Kittler nur wenig abgewinnen, denn er begriff das Nahen der Götter eher medientechnisch als genderanalytisch.

Eine Bekannte teilte ihm später einen weiteren empirischen Beweis seiner Götter-Theorie mit: Sie war auf einem Popkonzert in Kopenhagen gewesen und hatte mitbekommen, „wie der treue, liebevolle boyfriend das treue liebevolle girlfriend bei der Hand nahm und nach dem Konzert durch alle Wachen und Polizisten hindurch bugsierte und das Mädchen in der Garderobe dem Leadgitarristen oder dem Sänger übergab.“ Der verbrachte die Nacht mit ihr, und am nächsten Tag „ging die Liebe zwischen boyfriend und girlfriend weiter. Also eine uneifersüchtige Variante des Amphytrion-Stoffes, so wie auch Amphytrion nicht ernsthaft zu Alkmene sagen kann: ‚Ich verbiete dir, mit Zeus zu schlafen!‘“

Bei den Drogen bezog sich Kittler auf Baudelaire, Mallarmé und Rimbaud, die mit dem damals nicht-verbotene n Haschisch experimentierte n , als Nietzscheaner bezog er sich auch immer wieder auf den staatenlosen „Zarathustra“-Philosophen, der meinte: „…So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur. Ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig.“ Daneben hatte es Kittler ähnlich wie Nietzsche auch die Musik des „kleinen Sachsen“ Wagner angetan.

Auf Wikipedia heißt es über den im sächsischen Röcke n geborenen Nietzsche: „ Die zeitgenössische Kultur war in seinen Augen lebensschwächer als die des antiken Griechenlands . Wiederkehrendes Ziel von Nietzsches Angriffen sind vor allem die christliche Moral sowie die christliche und platon i sche Metaphysik . Er stellte den Wert der Wahrheit überhaupt in Frage und wurde damit Wegbereiter postmoderner philosophischer Ansätze.“

So ließe n sich auch d ie Ziele des im sächsischen Rochlitz geborenen Kittler zusammenfassen, der bei Nietzsche zwischen sedierenden und stimulierenden Drogen unterschied: erstere „erzeugen Apollon, letztere Dionysos“, wobei er dem LSD-Erfinder Albert Hofmann die These verdankt e , dass es sich beim griechischen Demeter- und Dionysos-Kult in „ Eleusis“ um einen „Getreidekult“ handelte, in dem das „Mutterkorn“ eine wichtige Rolle spielte – also das natürliche Pendant zu LSD, das auf den großen US- Popkonzerten dann für einen Dollar die „Pille“ (wie „Jefferson Airplane“ den LSD-Trip nannte) angeboten wurde. Später experimentierte auch die CIA mit LSD (zwecks Gehirnwäsche), die sie ihren Probanden allerdings heimlich verabreichte.

Anläßlich von Kittlers Veröffentlichung seines frühen Aufsatzes „Drogen und Medien in Thomas Pynchons Zweitem Weltkrieg“ traf ich ihn in Freiburg, um ihn mit eine m pynchonesken Weltkriegs-“ Selbstporträt“ des holländischen Autors Jakov Lind bekannt zu machen, der beim Einmarsch der Deutschen als Flußschiffer nicht aus, sondern in das Reich ge flüchtet war , wo er sich unbehelligt als Jude nur einige Male mit Tripper infizierte.

Anschließend besuchte ich Kittlers Seminar an der Freiburger Universität, wo es an dem Tag um den letzten Brief des Psychoanalytikers Jacques Lacan ging, den er aus Caracas an seine „Ecole Freudien de Paris“ ge schrieb en hatte , um sie für aufgelöst zu erkläre n . Ferner behauptete Lacan darin, dass die Frösche eine große Eleganz bei der Paarung zeigen, die Menschen dagegen nicht, und das sei doch wohl das wesentliche Problem, mit dem die Psychoanalyse es zu tun habe.

Mit dem Gräzisten Bruno Snell wußte Kittler sich einig, dass es unsinnig sei, Aphrodite, die Göttin der Liebe, zu leugnen, also zu behaupten, man glaube nicht an Aphrodite, denn „darum ist Aphrodite doch da und wirkt“. Noch auf seinem Sterbebett ließ er sich 2011 aus Bruno Snells Buch „Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen“ vorlesen.

„Ich sage nur Kina, Kina, Kina!“ Dieser Satz machte den einstigen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger berühmt – erst recht als Beate Klarsfeld ihn 1968 auch noch wegen seiner Nazi-Blockwartkarriere ohrfeigte. „Eine Attacke mit symbolischer Wucht“ nannte das 2018 das Deutschlandradio. Gegen die AfD wirft man neuerdings übrigens mit Torten (das „Peng-Kollektiv“ u.a. – JW berichtete).

Jetzt bedauern es die deutschen Politiker und Unternehmer, dass sie nicht eher auf Kiesingers mahnende Worte gehört haben. Da hilft auch kein Kanonenboot der Bundesmarine im Chinesischen Meer. In dem Interviewband „Zahlen sind Waffen“ (Band 176 der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“) kommt der Science-Fiction-Autor Dietmar Dath zu dem Urteil, dass die Debatten der chinesischen Intellektuellen, speziell der SF-Autoren (von denen nicht wenige Bücher auch auf Deutsch erschienen sind), „so viel interesssanter sind und weiter vorne als das, was mir Robert Habeck gerade erzählt.“

Hat der etwa auch einen SF-Roman geschrieben? fragte ich mich sofort und fing gleich an zu googeln. Dabei überraschte mich Habeck erneut. Unter „robert habeck sf-autor kaufen“ fand ich in der Liste seiner veröffentlichten Bücher auch ein illustriertes über Nudistenstrände. Naja, dachte ich, er war ja Umweltminister in Schleswig-Holstein.

Das einzige Buch von Habeck, das ich mir als SF-Roman vorstellen konnte, hatte den Titel „Wer wir sein könnten“. Dazu fielen mir sofort einige ferne Planeten ein, u.a. der Mars, auf denen eine geringere Gravitation herrscht und die Menschen infolgedessen immer größer werden. Deswegen planen einige US-Milliardäre ja auch, diesen Planeten zu kolonisieren. Es haben sich angeblich schon über 1000 Menschen als Pioniersiedler gemeldet. Sie sind bereit dort zu bleiben, denn einen Rückflug wird es nicht geben, und sie geloben, auf dem Mars alles cooler, und größer als auf der Erde zu machen. Kunststück.

Robert Habeck schreibt viele Bücher zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Andrea Paluch. Eine Googelsuche ergab: Die beiden haben 1996 in Dänemark geheiratet. Ihr gemeinsam veröffentlichter Roman „Hauke Haiens Tod“ könnte dem Titel nach ein K üstenk rimi sein. Da es sich bei dem Deichgrafen „Hauke Haien“ aber um die Hauptfigur in Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ (1888) handelt, der eine Deichverbesserung gegen die Sturmfluten durchsetzen wollte, aber dann an seinem Starrsinn im Kollektiv scheiterte, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass Habeck-Paluch aus ihm die langlebige Hauptfigur eines SF- R omans gemacht haben, dessen „Tod“ erst noch eintritt . Mit China hat das aber wohl nichts zu tun, denn die Meldung, dass Habeck in einem ZDF-Interview sagt e , er wolle ein „zentralistisches System wie in China“ war angeblich „verzerrt“ auf Facebook wiedergegeben worden, wie die „Faktenchecker“ vo n „correctiv.org“ berichteten .

Dietmar Daths Interesse an China kommt im Übrigen auch daher, dass „die Regierungen im Westen“, die er „komplett scheiße findet, Angst vor China haben, und das gefällt mir,“ sagt er. Er war aber noch nie in China, wie er der Autorin Sybille Berg gestand, die mit ihm am Interviewtisch saß und daraufhin entgegnete: „Ich war da schon.“ Sie bekam dort irgendwann „ein bisschen das Gefühl, plötzlich zu verstehen, warum Europa abkackt“. Die meisten Europäer würden von China eigentlich nur Ai Weiwei kennen, fügte sie noch hinzu. Dietmar Dath berichtete ihr von den Zuhörern einer Lesereise mit dem chinesischen SF-Autor Cixin Liu: „Ich wusste gar nicht, dass es so viele Chinesen in Deutschland gibt.“

Obwohl in Berlin lebend kennt Dietmar Dath vielleicht nicht den Friedenauer „Chinaclub“ des Sinologen Hanjo Lehmann, in dem sich chinesische Studenten und Kulturinteressierte treffen. Oder den „China Club“ unterm Dach des Hotel Adlon, den die Frau des Hotelbesitzers August von Jagdfeld voll mit chinesischer Sozpop-Art bis in die Toiletten hinein gehängt hat. Verkauft hat sie ihr angeblich der „Galerist der ersten Stunde in China“ Alexander Ochs, der inzwischen auch eine Galerie in Peking betreibt. Die Kunst aus China geht immer noch weltweit weg wie warme Semmel, sagte er sinngemäß dem Tagesspiegel. Derweil setzte August von Jagdfeld den Hotelkomplex Heiligendamm in den Sand. Angeblich sollen die Chinesen jetzt Interesse an dieser Immobilie bekundet haben.

Die Chinesen in Deutschland wirken zumeist unauffällig. Als ich den ehemaligen Rotgardisten und Germanisten Fang Yu fragte, ob sie eine eigene Zeitung herausgeben, sagte er: „Ja, in Hamburg, aber die kannst Du vergessen, da steht nur Unkritisches drin. Du weißt ja, die Chinesen treten nicht gerne hervor.“

Der Westen, angestrengt an der Seite von Taiwan, zerrt die Festland- Entscheider aber zunehmen d ans Tageslicht. So berichtete die Neue Zürcher Zeitung gerade: „ Tennis, Schach und Sex – die Profisportlerin Peng Shuai und ihre Affäre mit einem chinesischen Parteiboss: Ein Tennisstar gesteht eine heimliche Beziehung mit dem Parteikader Zhang Gaoli. Sie beschuldigt ihn auch des sexuellen Missbrauchs. Damit erreicht Chinas #MeToo-Bewegung den inneren Machtzirkel der Kommunistischen Partei.“ Dass Peng diesen „Zirkel“ sprengt , ist allerdings unwahrschei n lich , sie verschwand daraufhin. „D ie USA, Frankreich und Großbritannien forderten besorgt Klarheit über ihren Verbleib,“ berichtete die Tagesschau. Aber die Süddeutsche Zeitung meldete dann: „ Peng ist wieder da“.

Global Handeln. Die Nachrichten sind voll mit Berichten über Konferenzen zur Reduzierung der fortschreitenden Klimaerwärmung. Es geht um die Lösung eines Weltproblems. Und das heischt „Projekte“ – neue Technologien, was neue Industrien meint.

Einige der Projektemacher nennen sich „Geoingenieure“. Sie drängen z.B. darauf, anderthalb Milliarden „ Eichen“ zu pflanzen, die CO2 aufnehmen. Andere schlagen die Nutzung von Basalt-Bergwerken vor, die abgesaugten Stickstoff aufnehmen und durch Versteinerung binden.

Die für den „New Yorker“ arbeitende Journalistin Elizabeth Kolbert hat all diese Geoengineers für ihr Buch „Wir Klimawandler. Wie der Mensch die Natur der Zukunft erschafft“ (2021) besucht – und auch gleich die „Schwachstellen“ ihrer Weltrettungsprojekte benannt. Ihr geht es dabei „um Menschen, die Probleme zu lösen versuchen, die Menschen beim Versuch, Probleme zu lösen, geschaffen haben.“

Der „Gruppe von Negativ-Emissions-Technologen“, die vorschlägt, Milliarden „Eichen“ zu pflanzen, „was 200 Milliarden Tonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden könnte“, hält sie entgegen: „Bäume sind dunkel. Wenn wir z.B. die Tundra aufforsten würden, würde es die von der Erde absorbierte Energiemenge erhöhen“ – also sogar zur „Erderwärmung“ beitragen. „Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, wäre, mit der CRISPR-Technologie genmodifizierte hellere Bäume zu schaffen.“ Also sie künstlich zu albinisieren. „Soweit ich weiß, hat das bisher niemand vorgeschlagen, doch es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein,“ meint Elizabeth Kolbert.

Eine weitere Gruppe von Geoengineers will zwecks Verlangsamung der Erderwärmung Kalzit-, Sulfat- oder Diamant-Partikel in der Stratosphäre versprühen, die das Sonnenlicht zurückstrahlen. Dafür hat sie schon mal ein Flugzeug, den Stratospheric Aerosol Injection Lofter, kurz SAIL genannt, konstruiert. Mit dem will man im ersten Jahr 100.000 Tonnen Schwefel versprühen. Leider würde dies „das Erscheinungsbild des Himmels verändern. Er wäre nicht mehr blau, sondern weiß.“

Wenn man jetzt auch noch das Anthropozän-Phänomen der zunehmenden Zahl von quasi-natürlichen Albinogeburten bei Wildtieren und -pflanzen quer durch alle Arten – von der Mücke bis zum Elefanten und vom Hanf bis zum Ahorn – dazu zählt, kann man sich in etwa ein Bild von der Zukunft machen: Kein Schnee im Winter mehr, aber ganzjährig weisse Mischwälder mit weissen Tieren unter weißem Himmel.

E s gibt noch andere Projektemacher rund um das Klimaerwärmungsproblem . Z.B. die EIT InnoEnergy: „ Die vierte industrielle Revolution. Am 3. und 4. November 2021 haben Sie die Möglichkeit, inspirierende Gründer und innovative Teams, wie ONOMOTION, Ecoligo, Vulcan Energy, HardHyperloop, Corepower und viele andere beim Business Booster 2021 in Berlin zu treffen. Über 150 Start-ups stellen dort ihre neuesten Lösungen und Geschäftsmodelle vor. Ich soll mich auch für „ Global Clean Energy ETF“ begeistern, wenn nicht engagieren, d.h. mein Kapital in diese vielversprechende Branche, die von eine r zunehmende n Klimaerwärmung ausgeht und deswegen lukrative Angebote auf „Projekte“ zu ihrer Entschleunigung bereithält: „Fast ein Drittel der installierten Leistung von Anlagen zur Stromerzeugung aus regenerativen Quellen sind in der Hand von Privatpersonen. Privatpersonen treiben die Energiewende massiv voran. Wie unsere Infografik aufzeigt, sind es vor allem die Besserverdiener, welche in ökologische Assets investieren. Bei einem Nettohaushaltseinkommen über 3.500 Euro beträgt der Anteil sogar 15 Prozent.“ Da soll ich mitmachen.

Bei der modernen Bewirtschaftung des Waldes ging in der BRD stets Holz vor Jagd. In der DDR war es umgekehrt. Das begann zunächst damit, dass die Rote Armee im sowjetisch besetzten Sektor 1945 ein absolutes Jagdwaffenverbot anordnete. Ab da jagten fast nur noch Offiziere der Roten Armee. „Die sowjetischen Truppen nutzten diesen rechtsfreien Raum und etablierten einen regen Handel mit Wildbret,“ heißt es in Helmut Suters Jagdgeschichte „Honeckers letzter Hirsch – Jagd und Macht in der DDR“ (2018). Nachdem die SED alle Wälder der DDR zu Volkseigentum erklärt hatte, wurden die sowjetischen Jäger irgendwann zu „Wilderern“ und ihre Abnehmer zu „Hehlern“. Zuvor hatte der Geheimdienst der Roten Armee (SMAD) noch versucht, mit Befehlen die Jagd einzudämmen, indem die Zuständigen nur noch „Militärjagdkollektive“ und „Jäger der allrussischen Militärjagdgesellschaft“ zuließen sowie nach Wildtierarten unterschiedene „Schonzeiten“ festlegten, um „die barbarische Ausrottung seltener Tierarten zu verhindern“.

Die Landbevölkerung klagte derweil über eine „Wildschweinplage“. 1949 wurden dagegen „Jagdkommandos“ aus der Deutschen Bereitschaftspolizei aufgestellt, die von der SMAD bewaffnet wurden. Im selben Jahr fand laut Suter „die erste Regierungsjagd“ statt. Nach und nach bekamen auch die Förster Waffen, die neuen „Staatsforstbetriebe“ waren für die „Beschaffung, Kontrolle und Verwaltung der volkseigenen Waffen verantwortlich“. Es wurden „Jagdkollektive“ gegründet, theoretisch konnte jeder Jäger werden, aber damit hatte er noch keine Waffe und kein Jagdrevier. Mit einem neuen Jagdgesetz 1953 „sicherten sich die Politbüromitglieder interessante Jagdgebiete, auch für die SMAD, gegenüber den Jagdkollektiven“.

Diese 129 „Sonderjagdgebiete“ wurden immer mehr erweitert, immer stärker geschützt, auch die Volksarmee und die Staatssicherheit bekamen solche Reviere. Gleichzeitig wurden bis in die Achtzigerjahre die „Jagdhütten“ immer üppiger ausgebaut, zu wahren Jagdschlössern. Und dann wurde für Millionen Mark jährlich Hirschfutter aus dem Westen importiert, damit die Tiere schneller starke Geweihe für die regierenden Trophäenjäger ausbildeten.

„Für das Geschehen in der Schorfheide war in den Fünfzigerjahren Walter Ulbricht verantwortlich.“ Davor war es die SMAD gewesen, davor Hermann Göring und davor die „führenden Würdenträger der Monarchie und der Weimarer Republik“. Bereits die Askanier begründeten dort im 12. Jahrhundert eine Tradition der Jagd der Herrschenden. Dass sich in den sozialistischen Ländern nahezu alle Regierenden der Jagd widmeten, geht auf die Tradition sowohl der Adels- als auch der Volksjagd zurück – letzteres vor allem in Russland und Amerika, bis heute, wo nur wenig Menschen auf einem riesigen Territorium leben, hinzu kam eine mehr oder weniger ausgeprägte partisanische Vergangenheit. Einer der eifrigsten Jäger war Trotzki, der großen Konflikten in der Partei gerne auswich, um erst einmal jagen zu gehen, noch in seinem Exil auf der Insel Büyükada bei Istanbul verlangte er als erstes von seiner Deutsch-Übersetzerin Angelschnur aus England.

Der Zürcher Ethnopsychoanalytiker Paul Parin schreibt in seinem Buch „Die Leidenschaft des Jägers“ (2003): Ein „aufgeklärter Mensch jagt nicht“ und auch ein „Jude jagt nicht“ – das sind „gleichermaßen Gesetze abendländischer Ethik. Ich muss mich zu den Ausnahmen zählen“. Parin nahm als Arzt am jugoslawischen Partisanenkrieg teil. Am Beispiel von Milovan Djilas, leidenschaftlicher Angler, Mitkämpfer und Vertrauter Titos, gibt er jedoch zu bedenken: „Später, als Dichter, wusste Djilas: Keine Ausübung der Macht über das Volk, über die Schwachen, bleibt ohne verbrecherische Taten. Wäre es nicht besser gewesen, der eigenen Leidenschaft Raum zu geben und den flinken Forellen nachzustellen…?“

Im Nachwort rühmt Christa Wolf Paul Parins „Lebenskunst und Schreibkunst“, diese im richtigen Augenblick kennengelernt zu haben, hält sie für eine „glückliche Fügung“. Mich hat sie eher verwirrt. Parins Buch ist 2018 überarbeitet neu herausgegeben worden, es heißt jetzt: „Die Jagd – Licence for Sex and Crime“.

In einem Dokumentarfilm über deutsche Jäger heute meint die Regisseurin: „Jäger wissen viel über den Wald, Wildtiere, Krankheiten.“ Der Zürcher Zoodirektor und Tierpsychologe Heini Hediger wußte dagegen, dass die Jäger wenig zum Wissen über die Tiere, die sie jagen, beitragen. Das Jagen bietet im Grunde wenig Gelegenheit zum Beobachten. Ein Schuß, selbst ein Meisterschuß, ist eben niemals Beginn, sondern stets das Ende einer allzu kurzen und meist nicht sehr vielsagenden Beobachtung.“

Seitdem die „Jagden“ auch auf dem Gebiet der DDR privatisiert sind, hätten die jetzigen „Trophäenjäger“ den Wildbestand noch vergrößert, meinte ein Biologe in Görlitz kürzlich zu mir. Zur Freude der Wölfe, fügte er hinzu, die sich von dem ersten eingewanderten Wolf nach der Wende bis zu den heutigen Rudeln in den Bergbaufolgelandschaften und auf den Truppenübungsplätzen in der Lausitz ansiedelten. Leider gäbe es nicht genug Wölfe. Das sei die allgemeine Meinung der hiesigen Natur- und Umweltschützer.

Mit der Seßhaftigkeit und der Viehhaltung wurde die Jagd langsam zu einem Privileg der Mächtigen. Ein Beispiel dafür sind die schlesischen Adligen. Sie waren großenteils Preußen und agierten als Kolonialherren. Nahezu einmalig war ihr glücklicher Übergang vom Gutsbesitzer zum Bergwerksunternehmer. Fast alle schlesischen Adligen hatten als Hauptinteresse die Jagd, dazu waren sie auch noch höchlichst daran interessiert, dass der Kaiser, Wilhelm II., zu ihnen als Jagdgast aufs Schloß kam. Und der kam jedesmal mit einem so großen Gefolge, dass nur die „Magnaten“ mit den größten Schlössern ihn einladen konnten. In einem der gräflichen Schlösser stand in der Halle eine Glasvitrine mit einem Handschuh darin auf einem Kissen, die Gräfin hatte ihn getragen, als der Kaiser dort Jagdgast war und einen Handkuß angedeutet hatte, ihr weißer Handschuh war dadurch zu einer Reliquie geworden.

Der Sanierer etlicher heruntergewirtschafteter Güter des schlesischen Adels, Alfred Henrichs, beschreibt in seiner Arbeitsbiographie „Als Landwirt in Schlesien“ (die 2003 von der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft DLG veröffentlicht wurde), wie die Kaiserjagd dort vor sich ging: „Zunächst erschienen [z.B. auf dem Schloß des Grafen Johannes von Franken-Stierstorpff, der eine amerikanische „Milliardärstochter“ geheiratet hatte] einige Herren aus der jagdlichen Suite des Kaisers, um die Verhältnisse an Ort und Stelle zu studieren: war das Gelände geeignet, wie war der Wildbestand, wie waren die Schusslisten der letzten Jahre usw.. Auf die Einladung des Kaisers zur Jagd folgten, wenn seine Jagdprüfer ihm positiven Bericht erstatteten, „als nächste Inspizienten kaiserliche Kriminalbeamte, um das Schloss und die Umgebung im Hinblick auf die Sicherheit zu prüfen. Dann rückten Beamte des Hofmarschallamtes an und begutachteten die dem Kaiser im Schloß zugedachten Räume, in unmittelbarer Nähe mußten auch die Zimmer für seine Kammerdiener liegen. Außer seinem Jagdpersonal und den Kriminalbeamten kamen in der Regel auch die Chefs oder deren Vertreter nebst Hilfspersonal der Reichskanzlei, des Zivil-, Militär- und Marinekabinetts mit, die ebenfalls Diener im Gefolge hatten, denn die Regierungsmaschinerie durfte ja nicht stille stehen.

Nun wurden Skizzen vom Jagdgelände angefertigt, in die die einzelnen Treiben, die Stände der Schützen und vor allem die des Kaisers eingetragen wurden. Waren auch diese von Berlin aus genehmigt, dann schickte der Jagdherr seiner Majestät die endgültige Einladung mit Angabe der anderen einzuladenden Gäste. Hierbei behielt sich der Kaiser vor, Streichungen und Änderungen vorzunehmen. Es war auch mitzuteilen, wer die Nachbarstände des kaiserlichen Gastes einnehmen sollte, denn ihre Besetzung galt als besondere Ehre. Am Schluß kam dann noch eine Kommission des kaiserlichen Marstalls, um die Pferde und Wagen zu besichtigen, deren sich der hohe Herr bedienen sollte. Genügten sie nicht, wurden Pferde und Wagen aus Berlin herbeigeschafft. So kam es dann endlich zur definitiven Zusage des Kaisers und zur Festlegung des Jagdtermins. [Woraufhin der „Goldfasanenmeister und der Karnickeldirektor“ informiert wurden, wann und wo sie die mit sehr viel Geld aufgezogenen Tiere frei zu lassen hatten.] Der Fasan spielte in Schlesien eine große Rolle.

Inzwischen setzte sich der Küchenchef des Gastgebers mit der Hofküche in Berlin in Verbindung, um zu erfahren, welche Speisen der Kaiser bevorzuge und wie sie zuzubereiten seien. Der Haus- und Hofmeister erkundigte sich in Berlin, welche speziellen Wünsche der Kaiser für seine Räume habe, die Stellung des Bettes zum Licht, Bettwäsche, Zudecke usw. Dann hatte er zu ermitteln, welche Weine, Zigarren oder Zigaretten der Kaiser bevorzuge usw..Unmittelbar vor der Jagd waren die Schützenstände, eine Art ebenerdige Kanzeln, für den Kaiser herzurichten, für die es genaue Vorschriften gab. Sie bestanden zunächst aus einer Vorderwand, aus Fichtenzweigen geflochten, und ihre Höhe, breite und Dicke war genau vorgeschrieben. Seitlich schlossen sich zwei Nebenwände an, ebenfalls mit festgelegten Ausmaßen. In die Vorderwand waren zwei Astgabeln einzulassen, auf die der Kaiser die Flinte legen konnte. Auch deren Ausmaße waren genau vorgeschrieben. Sie mußten aus Buchenholz sein, das die sauberste Rinde hat. Der Fußboden der Kanzel war auf einige vorgeschriebene Dezimeter auszuheben, zuunterst mit Schlacke auszufüllen, worauf am Morgen des Jagdtages eine Schicht trockenen Sägemehls kam, damit es keine kalten Füße gab. Die Wege von einem Treiben zum zum anderen wurden mit frischen Fichtenzweigen ausgelegt, und da im dortigen Revier [Buchenhöh des Grafen Johannes] nur wenig Fichten standen, ließ man einige Tage vor dem großen Ereignis mehrere Waggons Fichtenreisig aus dem Riesengebirge kommen.

Wie mir der Wildmeister Urner und der Rentmeister Jendryssek dort sagten, war Wilhelm II., ein Meisterschütze, obwohl er wegen seines verkrüppelten linken Armes nur einarmig schießen konnte. Hinter ihm standen stets zwei Büchsenspanner. Er bekam selbstverständlich den besten Stand und hatte oft die größte Strecke.“ Wenn nicht, korrigierte man die Abschußliste zu seinen Gunsten. Alfred Henrichs erwähnt die Strecke einer fünfköpfigen Jagdgesellschaft des Grafen Schaffgotsch: „2500 Kreaturen“ an einem Tag. Nach seinen Schilderungen der Wirtschaftsweisen des schlesischen Adels kommt er zu dem Schluß: „Diese aristokratische Lebensweise war nur bei einem unendlich niedrigen Lebensstandard der Arbeiterschaft möglich.“

Der Einzelhandel, also der Ladenbesitzer, verschwindet. Er weicht den expandierenden Handelsketten. S o gibt es das Discountunternehmen „Lidl“ schon fast in ganz E uropa ( 10.800 Filialen in 32 Ländern, 193.000 Angestellte ). Dazu gehört auch noch „Kaufland“: W as für ein Name! Seit einiger Zeit breiten sich daneben die Handelsketten der „Bio-Supermärkte“ aus . Sie schlucken immer mehr „Bio-Läden“. 2012 wurden laut Wikipedia 42 kleine Bioläden mit bis zu 100 m² geschlossen und 41 Bio-Supermärkte ab 400 m² neu eröffnet.

Ein Freund von mir, der als letzter des Betreiberkollektivs eines Bioladens übrig blieb, endete an der Kasse eines Bio-Supermarkts. Er war nicht einmal unglücklich, auf diese Weise seine Selbständigkeit als Einzelhändler verloren zu haben, denn damit hatte das Hadern mit seinen schwindenden Umsätzen ein Ende. Er war übrigens mit seinen Erfahrungen im Bio-Supermarkt eine Ausnahme: D ie meisten Angestellten interessieren sich nicht für die Besonderheit en der Ware „Bioprodukt“. Es ist bloß ein Job für sie. Die beiden größten Bio-Supermarktketten, „Denn`s“ und „Alnatura“ beschäftigen jeweils mehrere tausend Mitarbeiter und haben keinen Gesamtbetriebsrat. Sie ähneln überhaupt den großen Nichtbio-Supermärkten, auch darin, dass sie ab einer bestimmten Größe den Herstellern und Lieferanten ihrer Produkte Vorgaben machen, das Aussehen, die Frische und den Preis betreffend.

Um die Schweizer Lebensmittelkette „Migros“ als Milchbauer beliefern zu dürfen, mußten diese alle ein computerisiertes Gerät von Migros kaufen, das Verunreinigung, Keimzahl und Fettgehalt ihrer Milch anzeigt. Wenn die „Daten“ eine Toleranzgrenze überschreiten, wird ihre Milch nicht a b genommen.

Als das Kombinat Narva seine Lampen nach 89 in die im Osten eingefallenen Supermärkte verkaufen wollte, mußte es seine Produkte erst einmal bei denen „listen“ – für 20.000 DM, was nicht hieß, dass sie auch nur in einer Filiale zum Verkauf angeboten wurden.

D er norddeutsche „Salatkönig“ Rudolf Behr beschäftigt 6.000 Erntearbeiter, sein Imperium reicht von Rumänien über Kroatien bis Spanien. Sein Ackererwerb folgt dabei den deutschen Supermarkt-Konzernen auf ihrem Ost-Feldzug, und seine Erntehelfer sollen künftig wie die mexikanischen Wanderarbeiter in den USA dem Erntezyklus durch ganz Europa folgen. Wenn seine LKWs den Salat zu spät an den jeweiligen Supermärkten an liefern, muß er für jede Stunde 500 Euro Strafe zahlen.

D ie Produzenten wehren sich, indem sie immer mehr auf Quantität statt auf Qualität setzen, die Lebensmittelaufsicht versucht dabei das Schlimmste zu verhindern – auch in den Bioläden. So prüf t en sie dort z.B. das „ungeschwefelte Trockenobst“ aus Griechenland – und stellen dabei fest, dass es sogar über das erlaubte Maß hinaus geschwefelt war , was ein dickes Bußgeld nach sich z og . Und die Bioladenbesitzer sind sogar noch froh darüber, weil sie nicht alle ihre Waren derart prüfen können.

Beim Einzelhandel kommt noch ein weiteres Problem hinzu: Nehmen wir an, ein junger Arbeitsloser eröffnet ein Geschäft mit Videospielen – und geht nicht pleite: der Laden läuft und läuft. Und plötzlich ist sein Besitzer alt und grau. Er hat sein ganzes Leben hinter der Verkaufstheke verballert. Er ist am Erfolg gescheitert. Nicht wenige werden in dieser Not kreativ, d.h. sie entwerfen Schriften für Sonderangebote und Neonreklame , sortieren um und Anglifizieren ihr e „Botschaften“ – mit oft grotesken Ergebnissen. So steht z.B. neuerdings an einem Berliner Fachgeschäft für Messer und Scheren a uf dem Schaufenster „Have a Knife Day“.

D iese i rren Händler, denkt man und erinnert sich vielleicht an die alten Griechen, die den Einzelhandel verabscheuten. Nur Halbfreie (Metöken) und Fremde sollten eine solch „unehrbare Tätigkeit“ – Pfennigfuchserei – ausüben. Für Platon war allerdings klar: „Der wahre Feind, der sich hinter dem Händler abzeichnet, ist der Tausch,“ wie es bei Roberto Calasso (in: „Der Himmlische Jäger“ 2020) heißt. Man sollte deswegen nur so wenig Händler wie nötig zulassen. Auch der private „Erfolg“ war höchst suspekt, und dann erst das „Geld“: Es erleichtert zwar die Güterverteilung, reduziert das Leben der Händler jedoch auf Zahlen. I hre wesentliche Tätigkeit ist das Zählen, a ber Rechnen ist nicht Denken, wie Adorno wußte .

Seltsam, dass Calasso nicht darauf kommt, warum in Athen in einer Nacht 415 v.Chr. zig Hermes-Statuen, die überall herumstanden, das Gesicht und der erigierte Phallus abgeschlagen wurde. Hermes war der Gott der Kaufleute. Es war ein Akt der Widerstands gegen die zunehmende „Macht des Geldes“, die die „Gemeinschaft“ zersetzte . Am nächsten Morgen machte sich Panik in der Stadt breit. Nicht wenige der vermeintlichen jungen Täter wurden zum Tode verurteilt, einige wurden verbannt oder flohen. Der Tragödiendichter Aischylos klagte : „Die Ehrfurcht von einst ist verschwunden./ Es bleibt die Furcht. Der Erfolg,/ der ist den Sterblichen der Gott und mehr als Gott.“ Zuletzt, als alle 12 Olympier nicht mehr ausreichten, fügte man eine weitere Gottheit hinzu: sinnigerweise die strenge, gewaltige Tyche – Fortuna!

Der US-Bienenforscher Thomas S. Seeley hat aus der Suche der Bienen nach einer neuen Höhle für den Schwarm und ihrer „kollektiven Entscheidung“ für die geeignetste Unterkunft zu einer auch für uns geradezu vorbildlichen „Bienendemokratie“ erklärt. Diese sollen wir uns alle zu Herzen nehmen. Der Autor praktiziert sie selbst erfolgreich als Leiter eines Forschungsinstituts . „Es gehört zu den erstaunlichsten Aspekten am Entscheidungsprozess der Bienenschwärme, dass er ein vollkommen demokratischer Vorgang ist,“ heißt es dazu in seinem Buch: „Bienendemokratie“ (2015), die ein Ergebnis der biologischen „Selektion“ ist.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die „Demokratie“ in Griechenland in dem Moment aufkam, als die (alte) „Gesellschaft“ mit der vollen (geldlichen) Entfaltung des Warenhandels auseinanderbrach – sie war somit die richtige Antwort in der falschen (Waren-) Sprache. Der von Herodot so genannte „Demokratie-Begründer“ Kleisthenes bildete (im 6.Jhd. v.Chr.) die neue Verfassung dem früheren „Stammesmodell“ nach – und verbarg so die Tatsache, dass mit ihr die „letzten Überreste der urtümlichen gesellschaftlichen Verhältnisse hinweggefegt worden waren,“ d.h. die Warenbesitzer traten sich nunmehr in der „‚Freiheit‘ des offenen Marktes als Gleiche gegenüber.“ Diese allgemeine „Gleichheit vor dem Gesetz“ (isonomia) bezeichnete bereits Diodoros aus Agyrion im 1. Jhd.v.Chr. als unwesentlich, da sie ohne „Gleichheit des Eigentums“ (isomoiria) durchgesetzt wurde. Infolgedessen hatte sich „der Klassenkampf, weit davon entfernt, beendet zu sein, noch verschärft.“ Es standen sich nicht mehr Adlige und Bürger, Mitglieder einer menschlichen Gesellschaft, gegenüber, sondern Sklavenhalter und Sklaven, wobei letztere „aus der Gesellschaft Ausgestoßene“ und zugleich „Schöpfer ihres Wohlstands“ waren. Dadurch entstand eine Spaltung zwischen Konsumtion und Produktion, zwischen Denken und Handeln. „In der griechischen Demokratie,“ heißt es weiter in den „Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft“ des Altphilologen George Thomson, „sah sich das Individuum von allen Bindungen ‚befreit‘, abgesehen von denen, die durch die geheimnisvollen Zusammenhänge der Warenproduktion hergestellt wurden.“ Die auf dem Prinzip des Privateigentums und des Warentauschs beruhende „Demokratie“ ist paradoxerweise die Negation von Gesellschaft. Um so mehr, als mit der Münzprägung die Besitzanhäufung maßlos wurde, was bereits den ehemaligen Kaufmann Solon um die athenische Demokratie fürchten ließ. Er beruhigte sich jedoch mit dem wenig überzeugenden Gedanken, dass ein Bürger, der sich alles leisten kann, nicht reicher ist als ein anderer, der nur genug zu essen hat.

Der Marxist Alfred Sohn-Rethel hat in seinem Hauptwerk „Geistige und körperlich Arbeit“ die Entwicklung dahin beschrieben: Im Maße in Griechenland mit der Eisenzeit eine Ökonomie der kleinen Bauernwirtschaften und der unabhängigen Handwerksbetriebe entstand, war „auf die Bereitschaft zur Erwiderung beim Gabentausch kein Verlaß mehr und der Austausch mußte eine tiefgreifende Umformung erfahren, eben die Umformung zum Warentausch, d.h. die zuvor im zeitlichen Abstand zur Gabe lose erfolgende Erwiderung verkoppelte sich jetzt strikt mit ihr zur prompten Bezahlung der Gabe an Ort und Stelle, so daß die beiden Akte des Austauschs wechselseitige Bedingung füreinander wurden und zur Einheit und Gleichzeitigkeit eines Tauschgeschäfts zusammengekettet waren. Die Partner dieses Verhältnisses standen nun als Käufer und Verkäufer erst eigentlich in vollem Sinne der Tauschhandlung und Tauschverhandlung sich gegenüber.“ Für die Masse der Bauern und Handwerker bedeutete diese Entwicklung jedoch, dass sie zu Schuldsklaven herabsanken, d.h. ebenfalls Handelsware wurden.

Es werde gesagt, schreibt Thomas S. Seeley am Schluß seines Buches, „die Honigbienen seien Botschafter, die von den Göttern geschickt wurden, um uns zu zeigen, wie wir leben sollen: in Süße, Schönheit und Frieden.“ In der Tat schickte der Himmel den Griechen die „Demokratie“, so wie dem „Ersten Philosophen“ Parmenides „das Sein“ von der Göttin der Gerechtigkeit geschenkt wurde, das für Sohn-Rethel erst durch die Einführung des Geldes überhaupt gedacht werden konnte.

Der Würzburger Bienenforscher Martin Lindauer hat Seeley gegenüber festgestellt, dass nur die „Spurbienen“ die Entscheidung, welche Höhle zum Nestbau am geeignetsten ist, quasi austanzen, was bis zu einer Woche dauern kann. Auf unsere „Demokratie“ übertragen, hieße das vielleicht, Sonnyboys wie Bill Gates, Elon Musk, Mark Zuckerberg wären unsere „Spurbienen“. Sie sind alle für die „Demokratie“, aber nur unter vernünftigen Führungskräften.

Sucht man im Internet nach dem Sachbuch „Influencer“ wird erst einmal ein altes Buch des extrem positiv denkenden Motivationstrainers Dale Carnegie angezeigt: „Wie man Freunde gewinnt“. Ein Influencer (Einflußreicher) ist d a nach jemand, dem es gelingt viele Freunde hinter sich zu bringen: Freunde im banalen amerikanischen Sinne von „Follower“ ( z.B. als „Facebook-Friend“) . Das neue kritische Sachbuch dazu – vom jungen Soziologen Ole Nymoen hat den Titel „ Influencer: Die Ideologie der Werbekörper“. Dazu heißt es: „ Menschen über dreißig kennen oft nicht einmal ihre Namen, für jüngere Jahrgänge sind sie Topstars: Influencer. Junge Erwachsene und sogar Kinder filmen sich beim Schminken, auf Reisen oder beim Sport und teilen ihre Tipps über soziale Medien mit ihren Fans. Dabei platzieren sie geschickt Produkthinweise und verdienen so ihren Lebensunterhalt – oder gar ein Vermögen.“

Für den Autor sind Influencer „ symptomatische Sozialfiguren unserer Zeit. In der Abstiegsgesellschaft scheinen noch einmal Aufstiegsträume wahr zu werden, der Spätkapitalismus hübscht sein Gesicht mit Filtern und Photoshop auf, mit einer revolutionären Form der Werbung komplettieren Instagrammer und Youtuber das Geschäftsmodell des kommerziellen Internets.“ Diese „Influencer“ leisten damit laut Ole Nymoen „ einem konservativen Backlash Vorschub“.

Wie man weiß, hatte die chinesische Regierung als erste die Idee, ihre Online-Verlautbarungen vom Volk begrüßen und für richtig befinden zu lassen, indem sie für jede Zustimmung zahlte, nur ein bißchen, aber wer fleißig zustimmte, konnte damit mindestens seine Miete be zahlen. Das waren die gekauften chinesischen „Follower“ (auch Fake-Follower genannt) der KP Chinas – der weltgrößten Influencerin.

Die Idee ist gut, dachten sich die amerikanischen Oligarchen (griechisch für „einige wenige Führer“). P raktisch die halbe herrschende Klasse de r U SA übernahm sie . In ihren „sozialen Medien“: Youtube ( der Medienkonzern, der gerade die russischen Sender rausgeschmissen hat, gehört zu Google), Facebook (dazu gehören Instagram, WhatsApp sowie einige weitere Soft- und Hardware-Firmen) und Twitter ( dieser von Trump so geliebte Mikrobloggingdienst gehört den eher un liebsamen Plusmachern Evan Williams, Al-Walid ibn Talal, Steve Ballmer und Jack Dorsey . )

Dorsay besitzt 13,2 Milliarden Dollar. Aber wie das so ist: Geld hat man im Kapitalismus nie genug und je mehr man hat, desto leichter ist es, mehr Geld zu „ machen“ – zu „ generieren“. So versteigerte Dorsay kürzlich als Geschäftsführer von Twitter z.B. die Rechte a n seinem ersten Twitter-Eintrag (Tweet) vom 21. März 2006 für 2,9 Millionen US-Dollar, er lautete: „Richte nur mein twttr ein“. Man kann also durchaus aus Scheiße Rosinen machen – wenn man reich genug ist und damit in den USA, wo Reichtum für das Wahre, Schöne und Gute gilt, als „Influencer“ genügend „Follower“ hat.

Aber auch hier gilt: genügend ist nie genug! Und so kommt es, dass der E-Auto-Bauer Elon Musk (mit einem Vermögen von 201 Milliarden Dollar) 60 Millionen Twitter-Followers hat, von denen jedoch 28 Millionen „Fake-Followers sind (46,5 %). D er reichste Mann der Welt hat damit die meisten Fake-Followers (also solche, die es nicht gibt). Ihm folgt das zweitreichste Arschloch, der noch viel gemein gefährlichere Bill Gates mit 56 Millionen Twitter-Followers, v on denen 24 Millionen Fake-Followers sind (42,3 %). Auf Platz 3 steht der Google-Geschäftsführer Sundar Pichai, der zwar nur ein Vermögen von 1,2 Milliarden Dollar hat, und auch nur 4 Millionen Twitter-Follower, aber davon sind immerhin 1,6 Millionen gefaked (39,3 %). Vierter in dieser Betrügerhitliste ist der Amazon-Gründer Jeff Bezos (mit einem Vermögen von 192 Milliarden Dollar): er hat 2,7 Millionen Follower, davon ist über eine Million gefaked (38,7 %). Fünfter ist der chinesische „Alibaba“-Gründer Jack Ma (mit einem Vermögen von gut 39 Milliarden Dollar): Er hat knapp 700.000 Twitter-Follower, davon sind fast 40% Fake-Followers. Platz 6: der demokratische Politiker und TV-Sendergründer Michel Bloomberg, mit einem Vermögen von 59 Milliarden Dollar, er hat 2,7 Millionen Twitter- Follower, davon sind fast 1 Million Fakes (34,8 %). Auf Platz 7: der englische „ Rocketman“ und Besitzer des Mischkonzerns „Virgin“ Richard Branson ( mit einem Vermögen von 4,4 Milliarden Dollar): E r hat 12,6 Milliarden Follower, von denen über 4 Milliarden Fakes sind (33,5 %). Platz 8: der o.e. Twittergründer Jack Dorsey, der 5,7 Millionen Follower hat, von denen 1,6 Millionen Fakes sind (29,6 %). Platz 9: die Ex-Ehefrau des Amazon-Gründers: Sie, MacKenzie Scott, ist mit einem Vermögen von 60 Milliarden Dollar die zweitreichste Frau der Welt und hat heute 180.000 Twitter-Follower, davon sind 43.000 gefaked (23,8 %). Schließlich auf dem 10. Platz der Kapitalisten „With The Fakest Twitter Following“, wie die US-Journalistin Amila Campbell ihr R anking nennt: Steve Palmer, er war lange Jahre Geschäftsführer von Microsoft, hat ein Vermögen von 92 Milliarden Dollar und 43.000 Twitter-Follower, von denen 10.000 Fakes sind (23,5 %).

Mit dieser Twitter-Fake-Scheiße kann man sogar direkt in den Klassenkampf eingreifen : Als es bei Amazon im Frühjahr 2021 darum ging, dass die vielen Mitarbeiter (weltweit sind es 1,298 Millionen) sich gewerkschaftlich organisieren wollten , tauchten auf Twitter plötzlich „Tweets“ von Amazon-Mitarbeitern auf, die sich dagegen aussprachen. Unter der Überschrift „‘Gefälschte‘ Amazon-Mitarbeiter verteidigen Unternehmen auf Twitter“ berichtete die BBC über diese kapitalistische Sauerei: „ Es wurde eine Reihe von gewerkschaftsfeindlichen Tweets von Konten versandt, die sich als Mitarbeiter ausgaben“.

Kürzlich gingen wir auf Entdeckertour – nach Muscheln und Steinen an der polnischen Ostseeküste zwischen Swinemünde und Colberg. Auch viele Vögel entdeckten wir dort: Silbermöwen, Lachmöwen, Kormorane, Enten, Tauben, Nebelkrähen, Dohlen. Die Schwalben sammelten sich auf den Stromleitungen. Am Himmel flogen Formationen von Kranichen und Gänsen und Schwärme von Staren und Spatzen.

Zwei Mal täglich wandten wir unseren Entdeckerdrang vom Meer ab: zu Strand, Düne mit Strandhafer, Kiefernwald, bis in die Gassen mit Buden, die chinesische Textilien, Schuhe, Uhren, Spielzeug und statt Ansichtspostkarten Kühlschrankmagnete mit Ansichtskartenmotiven anboten. All diese Buden weichen gediegeneren Läden und Hotels, Hotels, Pensionen, Ferienbungalows, -appartments, Restaurants, Cafés, Trimm-Dich-Parcours… Und Blumen: überall bunte Blumen.

In Dziwnowek, unserem preiswerten Basislager, das nicht in unserem Reiseführer erwähnt wird, errichten Stettiner Investoren drei große Hotelkomplexe, wobei sie von „intimen Investitionen“ sprechen, und dazu eine ganze Siedlung mit Ferienhäusern. Ein Häuschen mit 47 Quadratmetern Wohnfläche auf einem 54-Quadratmeter-Grundstück kostet mit Parkplatz rund 100.000 Euro.

Den Vogel an Investitionsfreude schoß Swinemünde ab. Hier scheint das Kapital am Wildesten entschlossen, die Renommierbäder Ahlbeck und Heringsdorf auf der deutschen Seite Usedoms arm aussehen zu lassen. „In den Dreißigerjahren kurten in Swinemünde zahlreiche deutsche Filmstars,“ heißt es im Reiseführer. Jetzt, in der Nachsaison dominierten in Swinoujscie, wie in allen Badeorten, wohlbeleibte Rentner beiderlei Geschlechts und Nationalität mit kleinen plattschnauzigen Hunden das Geschehen auf den Strandpromenaden, am Meeressaum und am Frühstücksbüffet. In einigen Häfen warteten „Wikingerschiffe“ auf sie, die mal die Küste vom Meer aus sehen wollen. Überhaupt hat man dort die Wikinger „entdeckt“, die immer wieder die pommerschen Küstenorte heimgesucht hatten.

In Wolin, am Camminer Bodden gelegen, wird alljährlich ein großes Wikingerfest veranstaltet. Dazu reisen „Fans“ aus ganz Polen, Dänemark, Deutschland und Litauen an.

In Kamien-Pomorski, ebenfalls am Camminer Bodden, gibt es einen voll belegten Yachthafen und ein wenig besuchtes Orgelfestival. Die jungen Frauen in diesen kleinen Küstenorten scheinen überwiegend Beschäftigung im Bedienungsgewerbe zu finden. Das Angebot für Touristen ist in Kamien-Pomorski allerdings noch „überschaubar“, heißt es.

„Die Badewanne Berlins“, wie Misdroy sich einst nannte, soll im Sommer laut dem Reiseführer „Polnische Ostseeküste“ ein Tummelplatz der polnischen Filmprominenz sein, die sich nächtens im Club des Amber Baltic Hotels (190-Zimmer) vergnügt. Direkt vorm Club haben sie einen „Walk of Fame“. Im Ortszentrum findet man an deutscher Prominenz fast alle Supermarktketten. Nicht nur in Medzyzdroje eröffnete an der Strandpromenade ein Ozeanarium mit exotischen Fischen. Buden bieten daneben exotische Muscheln an. Zur Hochsaison kommen über 500.000 Sommergäste nach Medzyzdroje.

Auf der Seebrücke drängeln sich auch in der Nachsaison noch die Feriengäste. Es gibt keinen Maskenzwang und kein Testergebnisvorzeigen, wir sahen auch kein Corona-Testzentrum. Eine Dame aus Zwickau klärte uns auf: „Hier vertraut man der gesunden Seeluft.“ Ähnliches hatten wir uns zuvor auch schon in Kopenhagen gedacht, aber kaum hatten wir die Oder-Brücke nach Deutschland überquert, passierten wir ein großes Corona-Testzentrum, bekamen eine Corona-Grußbotschaft von der Bundesregierung auf unser Handy und im Restaurant verlangte man Impfnachweis bzw. Testergebnis.

Kolobrzeg (Colberg) hat heute alljährlich anderthalb Millionen Besucher. „ Am meisten los ist zwischen Leuchtturm und Seebrücke,“ heißt es auf Wikip e dia. Ein Strandkorb kostet mit Sonnenschirm pro Tag knapp 25 Euro. Sogar für einen Gang auf der Hafenmole mußten wir zahlen . Am Holz pier fragt e meine osteuropa kritische Freundin, d er so manches Profitmacherprojekt an der naturnahen pommerschen Küste mißfiel : „Was hat denn hier ein Riesenrad zu suchen?“

Einst kämpften Wikinger, Schweden, Franzosen, Russen, Deutsche und Polen um diese Stadt der „Küstendenker“ . Im März 1945 verschanzte sich die Wehrmacht in dem „ Kraft-durch-Freude“- B ad, in den Kämpfen wurden 90 Prozent der Gebäude zerstört. Zur gleichen Zeit kam der NS-Durchhaltefilm „Kolberg“ in einige Berliner Kinos. Der Film zeigt die heldenhafte Verteidigung der Stadt unter der Führung von Gneisenau und seines Adjutanten Nettelbeck gegen die Truppen Napoleons 1806/07. Zuvor war es zu einem Bürgerstreit gekommen: „ Nettelbeck war für Widerstand, der geschäftsorientierte Reeder für Unterwerfun g“ . So ähnlich war es auch 1945, diesmal unterlagen jedoch die Deutschen.

Der ehemalige Seemann auf Sklavenschiffen Joachim Nettelbeck hinterließ eine „Lebensbeschreibung“. Sein letzter männlicher Sproß war der 2007 gestorbene Schriftsteller Uwe Nettelbeck, der zusammen mit der ehemaligen Schönheitskönigin und Fernsehansagerin Petra Nettelbeck in Frankreich eine deutsche Zeitschrift im Geiste von Karl Kraus‘ „Fackel“ herausgab: „Die Republik“. Ü ber den „Kolberg“-Film schrieb er in „Die Zeit“ einen Artikel.

Hotel-Handtücher und -Toilettenpapier

„Mir egal, wo wir Urlaub machen, Hauptsache wir haben ein Hotelzimmer mit einem Schwan aus Handtüchern auf dem Bett und das erste Blatt auf der Toilettenpapier-Rolle origamimäig gefaltet,“ hörte ich einmal eine Frau am Nebentisch in ihr Telefon sagen. Und das fast ohne Ironie. Seitdem achte ich auf so etwas, wenn ich mal in einem Hotel übernachte, ja, ich sehe immer als erstes nach diesen beiden Begüßungsgesten der Hotelleitung. Nicht dass ich sie vermissen würde, sondern ob es – beim Schwan auf dem Bett z.B. – regionale oder kultur- und klassenmäßige Unterschiede gibt. Leider wirkt sich das Internet nivellierend dabei aus: U.a. der YouTube-Clip „Handtücher falten – Schwäne – Anleitung“ und der Clip „In der Ruhe liegt die Handtuch-Kunst“.

Aber schon scheint die „Diversity“ der Bettschwäne auf anderer Ebene wiederzukehren: auf der von Profikünstlern. Wie die chinesische Internetseite „german.alibaba.com“ versichert, sind Bettschwäne „künstlerisch und trendy“ im Kommen – für „Dekorationen“. Diese Falztechnik für Stoffe hat in China eine lange Tradition und weiße Schwäne sind dort wie auch anderswo ein beliebtes Motiv, es gibt neben Porzellanschwänen und den Bettschwänen aus weißen Handtüchern auch „Origami-Schwäne“ aus Papier dort – mit Anleitungen, wie man sie auf „chine-culture.com“ z.B. findet.

Auf die Frage „Wie macht man einen Bett schwan“ antwortet Wikipedia: „1. Lege ein Handtuch flach hin. 2. Falte nun die beiden oberen Ecken des Handtuchs nach innen, so dass sie sich in der Mitte treffen. 3. Rolle nun die beiden äußeren Kanten nach innen in Richtung Mitte. 4. Falte den entstandenen Pfeil zu einem Z. 5. Setze nun das Z hin und forme die Ecken zu Kurven.“ Anderswo im Internet wird das Handtuchschwan-Falten in sechs Schritten erklärt.

Bei den chinesischen Bettschwänen sind zwei Schwäne beliebt, die sich Aug in Aug gegenüber befinden, ihre Schnäbel so weit gesenkt, dass sie sich damit berühren, während ihre Brüste sich einander nähern. Von der Seite aus gesehen bilden sie so eine Herzform. Das ist nur eine von vielen chinesische n Handtuchschwan-V arianten . Auf Facebook sah ich übrigens ein Foto von einem deutschen Hotelgast, der aus allen Handtüchern in seinem Zimmer eine Art agressiven Bettschwan gefertigt hatte, er sah aber noch nicht gut aus. Die chinesischen Künstler denken sich zu „Dekorationszwecken“ immer neue feinsinnige re Bettschwäne aus, auch andere Betttiere, eine ganze Handtuch-Menagerie. Auf „de.aliexpress.com“ werden „Luxus Bettschwäne“ angeboten. Wer kauft so etwas? Auf „wikihow.com“ („Hier lernst du alles“) f and ich die Antwort: „ Handtuchtiere werden oft auf Kreuzfahrtschiffen und B&B Hotels verwendet, um dir deinen Aufenthalt unvergesslich zu gestalten. Diese in deinem B adezimmer aufzustellen, wird mit Sicherheit beeindrucken! Befolge diese Anleitung, um einen Schwan zu falten.“

Zum Einen sind also die Großabnehmer von Bettschwänen Kreuzfahrtschiffe (mit bis zu 2700 Kabinen) und große Hotels (mit bis zu 7300 Zimmern), und zum Anderen sind nun auch – aus Langeweile? – die Nutzer dieser Kabinen bzw. Zimmer gehalten, selbst aus ihren Handtüchern Schwäne zu falten und zu rollen – um damit zu „beeindrucken“. Aber w en oder was? Doch eigentlich nur das Zimmermädchen, heute versachlicht „Zimmerservice“ genannt, de m man ein Trinkgeld auf dem Nachttisch hinterläßt – und keine n selbstgemachten Schwan, „wikihow“ meint jedoch die Gäste in privaten Badezimmern, die von dem Handtuchtier beeindruckt werden sollen. Der „künstlerische und trendy“ Bett- bzw. Badezimmerschwan soll damit von den großen Beherbergungsunternehmen auch zu den kleinen, privaten Bett- und Badezimmer-Besitzern gelangen.

In den Vorgärten sieht man gelegentlich Schwäne aus alten Autoreifen, schwarze Schwäne, aber auch weiß angemalte. Auch sie gehören den kleinen Grundstücks-Besitzern, die großen besitzen einen Teich mit lebenden Schwänen.

Ich meinte einmal zur Chefin eines kleinen Künstlerhotels in Worpswede, als sie mir mein Zimmer zeigte: „Da ist ja gar keine Handtuchschwan auf dem Bett.“ „Diesen Quatsch vermissen Sie doch nicht im Ernst,“ antwortete sie mir. „Nein,“ sagte ich. Auch das erste Blatt der Toilettenpapierrolle in der Naßzelle meines Hotelzimmers hatte sie nicht origamimäßig gefaltet. Laut Wikipedia ist „Das Falten von Toilettenpapier in Hotels ein gebräuchliches Vorgehen in Hotels weltweit, um dem Gast anzuzeigen, dass das Badezimmer gereinigt wurde. Üblicherweise geschieht das Falten so, dass ein Dreieck oder „V“-Muster aus dem ersten Blatt einer Toilettenpapierrolle gefaltet wird.“

Das Portal „Focus“ und der „Merkur“ zitieren ein Zimmermädchen, das davor warnt: „Sie sollten im Hotelzimmer niemals das gefaltete Klopapier nehmen“. Weil „zunächst das gesamte Hotelzimmer gereinigt werde , ehe die kleine Ecke in das Toilettenpapier gefaltet w ird . Da sich das Reinigungspersonal nach dem Putzen meist nicht die Hände wäscht , sei genau dieses Eck der Klopapierrolle so unhygienisch .“

B esagtes Zimmermädchen rät deswegen: „ Lieber zwei bis drei Lagen der Toilettenpapierrolle abwickeln und wegschmeißen. Verwenden sollten Sie das gefaltete Dreieck aber ganz bestimmt nicht. “ Ich finde das übertrieben, so wie im Übrigen auch die genbasierten Injektionen zur Manipulation unserer Körperzellen, damit sie das Spikeprotein des Sars-CoV-2 Virus abwehren.

„Fake it until you make it“ – „Tue so, als ob, bis du es kannst“ – ist eine Art Leitmotiv in der Startup-Szene des Silicon Valley. Im Versuch, Investoren anzuziehen, beschönigen viele Gründer ihre Erfolgsaussichten massiv, heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung über die „erfolgreichste Gründerin im Silicon Valley“ Elizabeth Holmes. „Doch statt mit ihrem Startup Theranos Bluttests zu revolutionieren, betrog sie Investoren um Hunderte Millionen Dollar.“ Ihr drohen nun „Zwanzig Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von mehreren Millionen Dollar“.

„Tue so, als ob, bis du es kannst oder bis du als Nichtkönner auffliegst“ – dieses Leitmotiv könnte auch für die Plagiatoren unter den Verfassern von wissenschaftlichen Haus-, Diplom und Doktorarbeiten gelten, allemal für die vor einiger Zeit aufgeflogenen Topjou r nalisten der Süddeutschen Zeitung und des Spiegels, die Interviews und Ereignisse in ihren Artikeln fakten – erfanden.

Über den mit Preisen geehrten Spiegel-Reporter heißt es in der FAZ: Er habe „in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht“. Über den SZ-Hollywoodreporter heißt es im Spiegel: Er weiß, „dass dieser Riesenskandal, über den Chefredakteure stolperten, für den Rest seines Lebens im Raum stehen wird wie ein Elefant in einer Einzimmerwohnung.“ In der SZ muß man seitdem als Autor jeden Text fünf Mal beglaubigen. Ihr ehemaliger Starjournalist, der heute Tennislehrer ist, schrieb ein Buch über sein aktives Leben, das als „ Tenniscoach beim TC Weiß-Rot-Neukölln“ begann , und seine Hollywood- Fakes, über das der Spiegel urteilte: „ Der Lügenquatsch kommt darin vor, relevant ist er in seinem ‚intensiven‘ Roman nicht.“

Anders als in der ehrpusseligen Wissenschaft und im wahrheitsgetreuen Journalismus ist der Fake in der Kunst ein anerkanntes Verfahren, mindestens gibt es eine „Kunst des Fake“, über die der Westberliner Künstler Ernst Volland ein Buch, unter dem nämlichen Titel, veröffentlichte. Diese „Kunst“ versteht sich als eine Form der Aufklärung – und zwar von unten. Es gibt auch eine – wenig emanzipatorische – Form dieser Kunst von oben: Die Konstantinische Schenkung oder die Emser Depesche beispielsweise .

In der Verlagsankündigung heißt es über das Buch „Kunst des Fake“: „Der Künstler Ernst Volland beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Fake. Er beobachtet sie im Alltag, findet sie in den Medien oder entwirft einen Fake. Dafür schickt er vermeintliche Kinderzeichnungen an Politiker und Bischöfe oder schenkt der Nationalgalerie das Bild eines fiktiven Künstlers. Sein Ziel: mit subversiven Nadelspitzen die Mächtigen herausfordern.“

Das gilt auch für die als „Kommunikationsguerilla“ Fake s bei den Mächtigen inszenierende n Gruppen „Yes Men“ und „ Peng-Kollektiv“.

Bei Wikipedia erfährt man: „Ernst Volland, geboren 1946 in Bürgstadt/Miltenberg, ist ein deutscher Künstler, Karikaturist, Kurator und Autor. Er setzt sich mit historischen Fotos auseinander; etwa in seiner Serie ‚Eingebrannte Bilder‘ entfremdet er ikonische Fotos, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind.“ Einiges davon erinnerte mich an Bilder von Gerhard Richter. Volland fakte sie jedoch nicht.

Einen Fake, in dem es um einen dritten „Fettstuhl“ von Joseph Beuys in Amsterdam ging, erzählt der Künstler in seinem Buch : „Der Fake konnte nicht realisiert werden, er scheiterte an den Umständen. Wichtig ist es bei einem Fake, eine Spur zu legen mit einer glaubwürdigen Legende“ – d.h. mit plausiblen „Facts“. Die Pressesprecherin von Trump prägte in diesem Zusammenhang d as schöne Wort von den „alternativen Fakten“. Und das im faktengläubigen Amerika. In bezug auf die gefakte Amsterdamer Kunstaktion von Ernst Volland hieß die s: „Hier stellte die Aktivität von Beuys, seine Anwesenheit in der holländischen Galerie, den realen Hintergrund. Warum sollte Beuys nicht drei Fettstühle produziert haben?“

D erzeit ist viel von „Fake-News“ die Rede, also von falschen Nachrichten, die im Internet verbreitet werden – und alle, die es besser wissen, rufen sofort empört :„Fake News!“. Der Sender n-tv meldete kürzlich empört : „‘ Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock will nicht Haustiere verbieten‘ – doch diese und andere Falschnachrichten über die Politikerin verbreiteten sich in sozialen Netzwerken und Medien. Einer Studie zufolge ist vor allem die Grünen-Chefin von solcher Desinformation betroffen…Unter den drei Bewerbern für das Kanzleramt entfielen 71 Prozent der falschen oder irreführenden Angaben auf Baerbock, hieß es in einer Studie des Kampagnennetzwerks Avaaz.“

Diese in den „sozialen Netzwerken“ nach Fakes fahndende Gruppe hat einen Kampagnendirektor, der laut n-tv alle Akteure auf forderte ( nicht die Fake-News-Produzenten sondern die wahren News-Macher! ) , sich die Frage zu stellen, ob sie nicht „gerade den Verbreitern von Falschnachrichten in die Hände“ spielten, wenn sie „ihre Lügen aus Facebook-Gruppen und Telegram-Chats auf die Fernsehbildschirme und Handydisplays von Millionen deutschen Wählern und Wählerinnen bringen“. Direkt in ihre Gehirne.

A ber ob nun wahre oder gefakte News: Ich glaube einfach „Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock will nicht Haustiere verbieten“. Warum auch?!

Das menschenentleerte Gebiet von Tschernobyl erweist sich für die Pflanzen- und Tierwelt als ein „wahres Paradies“, wie Biologen diese „Todeszone“ nennen . E in Vogelbeobachter, mit dem ich den Vogelpark Walsrode besuchte, meinte : „Das ist ja wie im Paradies hier.“

Wir besuchten einmal einen Kibbuz am See Genezareth. Als wir im Eßraum saßen, meinte eine neben mir sitzende Kibbuznikim: „Ihr seid doch an unserer Bananenplantage links abgebogen und zum Haupteingang reingekommen, wenn ihr geradeaus gefahren wärt, wärt ihr da hingekommen, wo einst das Paradies war, aus dem Adam und Eva vertrieben wurden.“ Ich wußte auf diese überraschende Lesart der Bibel als Kataster nichts zu antworten.

Wikipedia beantwortet e die Frage, wo das Paradies auf Erden, der in der Genesis beschrieben Garten Eden ist, so: „ Obwohl es auf der Erde lokalisiert ist, verspricht es neben sinnlichen Genüssen und Kostbarkeiten das ewige Leben, wobei hier die Einschränkung gilt, dass das ewige Leben auf den Aufenthalt im Garten beschränkt ist,“ der quasi kultiviert – nichts Wildes ist. Weswegen dort auf allen bildlichen Darstellung Löwen, Schafe und Menschen, Rinder und Gräser friedlich nebeneinander leben. Das biologische Gesetz „Leben heißt töten“ gilt d ort nicht.

Konkret soll sich laut Wikipedia der „ Garten Eden im Südosten Anatoliens, nahe der heutigen Stadt Sanliurfa“ befunden haben . Das meinte 2009 auch die BZ, wobei sie sich auf ( amerikanische? ) „Wissenschaftler“ berief: „Forscher entdeckten Garten Eden“. Im selben Jahr habe ich nebenbeibemerkt den Garten von Rolf Eden, dem einzigen Westberliner Roll s Royce Fahrer , in Zehlendorf entdeckt.

D ie Zeugen Jehovas geben auf ihrer Internetseite zu bedenken, das schon „so manche Forscher behaupteten, sie hätten das verlorene Paradies wiedergefunden. Die Suche nach dem ‚Paradies auf Erden‘ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte.“ Sie meinen: „Da man heute wohl kaum von einem Paradies auf Erden sprechen kann, stellt sich die Frage: Wird sich diese Verheißung irgendwann erfüllen?“ Also wird es das Paradies wenigstens in Zukunft geben? Sie sind da optimistisch: Wie in Matthäus 6:10 versprochen, wird das „Königreich mit Jesus Christus als König über die ganze Erde herrschen und alle Regierungen auf ihr ersetzen (Daniel 2:44). Es wird dafür sorgen, dass Gottes Wille geschieht und die Erde wieder zu einem Paradies wird.“ Auch der Psalm 115:16 und Titus 1:2 versichern: Die Hoffnung auf ein Paradies auf Erden kommt von „Gott, der nicht lügen kann“.

In dem kleinen Buch der in Wien und Damaskus lebenden Luna Al-Mousli „Als Oma, Gott und Britney sich im Wohnzimmer trafen – oder Der Islam und ich“ (2018) schreibt die Autorin, sie habe in ihrem Religionsunterricht gelernt , dass die Kaaba in Mekka ein Stein aus dem Paradies sei, Luna Al-Mousli mutmaßte, dass dann ja wohl das Paradies „irgendwo im Weltall“ liegen müsse ( denn die Wissenschaftler gehen ja davon aus, dass es sich bei dem Stein, den zu berühren für die gläubigen Moslems das Höchste ist, um einen Meteoriten handeln würde. Er ähnelt den auf Grönland gefallenen , aus denen die Inuit ihre Eisenwerkzeuge schlugen, drei wurden ihnen allerdings 1897 von US-Wissenschaftlern für da s Museum of Natural History geklaut ) .

Als Luna Al-Mouslis Oma und Opa von ihrer Pilgerreise nach Mekka zurück kamen, brachten sie in Flaschen abgefülltes heiliges Wasser aus einer „besonderen Quelle“ mit: „Man erzählte, es käme direkt aus dem Paradies“. Und also konnte dieses eigentlich nicht „irgendwo im Weltall“ liegen – aber wo? Un geachtet dessen sagte man ihr, „wenn man in einer großen Masse betet, bekäme man mehr Hasanat – das sind die guten Karma-Punkte, die einen ins Paradies bringen“. Sicher war sich die Autorin nur , dass es Opas selbst gemachte „Marillenmarmelade“ auch im Paradies g ibt . Von ihrer Oma erfuhr sie: „Seit Adam und Eva lastet auf uns Frauen die Schuld, die Frucht gepflückt und so die Menschheit aus dem Paradies vertrieben zu haben. Das stimmt aber nicht. Adam und Eva griffen gleichzeitig zu.“

Am Schluß ihres Buches kommt Luna Al-Mouslis Vorstellung vom Paradies der Einschätzung der Biologen, dass die menschenentleerte Todeszone von Tschernobyl ein „wahres Paradies“ sei, nahe: „Wahrscheinlich waren alle Lebewesen im Paradies froh, als Adam und Eva auf die Erde mußten und das Paradies wieder ein Ort der Ruhe und des Friedens war.“

Neben der Vertreibung aus dem Paradies gibt es auch eine Hintreibung: In Kevin Bakers Roman „Die Straße zum Paradies“ (2004) ist dies die gewalttätige „Paradise Alley“ im Armenviertel von New York. In Antti Tuuris Roman „Strasse ins Paradies“ (2019) ist dies ein Schotterweg, auf dem des Kommunismus verdächtige Finnen von der rechtsextremen Lapua-Bewegung über die Grenze in die Sowjetunion, dem „Paradies der Werktätigen“, abgeschoben werden.

Die evangelische Theologin Nadja Papageorglu führte 2014 in ihrer Predigt „Wo ist das Paradies“ aus: „Der Schweizer Theologe und Orientalist Othmar Kehl meint, man könne genauso gut versuchen, den Stein der Weisen mineralogisch zu bestimmen wie den Ort des biblischen Paradieses geografisch zu verorten. So ist es mit dem Paradies. Es gibt es hier auf Erden. Und es ist nichts als eine Idee, eine Phantasie, ein Traum, der zu verschiedenen Zeiten für verschiedene Menschen verschiedene Namen hatte.“ Im Koran sei das Paradies ein Ort, „wo die Früchte so gross sind, dass sie Schatten werfen und in den Bächen neben klarem Wasser Milch und Honig fliesst.“ Das Paradies sei also das Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Das christliche Paradies befände sich dagegen „am Ende der Zeit“ und sei „die Belohnung für ein anständig gelebtes Leben. Gemeinsam ist den Paradiesen, dass das Wetter mild und das Essen reichlich ist.“ Für nicht wenige männliche Gläubige ist es darüberhinaus voller Jungfrauen, die zu jeder Schandtat bereit s ind .

D as Paradies als eine bloße Phantasie abzutun, ist ein Resultat der aufgeklärten Moderne. In Christine Wunnickes Roman „Die Kunst der Bestimmung“ (2021) ist von einem schwedischen Taxonomen die Rede, der das Durcheinander in der „Wunderkammer“-Sammlung der Londoner Roxal Society nach den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft ordnen soll. Dazu erklärte er der Gesellschaft: „ Sammeln heißt ergänzen und ergänzen heißt verstehen. Wenn wir verstehen, was wir haben, verstehen wir, was uns fehlt…Wir haben eine mexikanische Bettwanze und ergänzen eine Bettwanze aus der Paternoster Row.“ Auf diese Weise wollte er alle Naturobjekte in eine sinnvolle Ordnung stellen.

Neben dem Taxonomen gab es noch einen Mann, der im Hatton Garden „das Paradies ausstellte“. Es war ein Zelt und der Eintritt kostete 15 Penny. „Tiere, Pflanzen und Gestein, alles war auf Holz oder Stoff gemalt und dann ausgesägt und aufgespannt. Der Besitzer des Paradieses ging darinnen umher und sagte Gedichte zu jedem Tier und jeder Pflanze…Das Zelt platzte aus allen Nähten. Es war ein großes Durcheinander im Paradies.“

Als der Schwede die Sammlung der Royal Society geordnet hatte, bekam der „Paradiesmensch“ darin eine Anstellung als Führer für die Besucher. „Mit einem Zeigestock und vielen Versen half er ihnen, die Ordnung der Dinge zu begreifen.“ Der Schwede hatte das wahre „Paradies ausgeheckt, dies muß er nun mit Umsicht bestellen,“ meinte einer Gelehrten aus der Gesellschaft. Der „Paradiesmensch“ scheint sich der wissenschaftlichen Ordnung untergeordnet zu haben. Das war später nicht immer der Fall, dass der leidenschaftliche Sammler dem strengen Wissenschaftler w e ichen mußte.

Im Jardin des plantes gab es mit der Institutionalisierung der Funktion eines Professors, der dozierte, und eines “demonstrateurs”, eine Hierarchie der Wissenden, die ihre Konflikte bisweilen offen austrugen: Während z.B. der Professor Bourdelin seine Vorlesung mit den Worten beendete: “…Wie Ihnen der Herr Demonstrateur durch seine Experimente sogleich beweisen wird”, begann der Demonstrateur Rouelle, er wurde später Mitbegründer der Chemie in Frankreich, mit den Worten: “… Alles, was der Herr Professor gesagt hat, ist absurd und falsch, wie ich Ihnen sogleich beweisen werde.”

Es gab später von den Deutschen auch den Versuch einer Neuordnung der menschlichen Gesellschaft nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Die Nazis nannten das „Pazifizierung“, was hieß, das in den von der Wehrmacht besetzten Ostgebieten immer größere Teile der Bevölkerung getötet wurden. In ihrem Buch über „Albert Speer“ (1995) schreibt Gitta Sereny, dass Hitler am 16.Juli 1941 bei einer Unterredung mit Göring, Lammers, Rosenberg und Keitel die Verstär k ung des „Pazifizierungsprogramms“ hinter der russischen Front befahl. „Deutschland“, meinte er, „werde sich nie mehr aus den neugewonnenen Ostgebieten zurückziehen, er wolle dort ein ‚Paradies‘ schaffen.“

Das hieß: „ E ine saubere, durch Vertreibung, Vernichtung geschaffene Fläche. Eine Fläche der Reinheit, eine Fläche der Zugehörigkeit,“ wie es beim Philosophen Michel Serres heißt.

Götterbäume

Der chinesische Götterbaum, auch Baum des Himmels genannt, ist in Berlin der häufigste Laubbaum, Millionen gibt es davon und alle Ausrottungsaktionen helfen nicht, denn der Götterbaum ist klug, wenn man so sagen darf: Das Götterbäumchen wächst an den unmöglichsten Stellen aus Spalten zwischen Gehsteig und Mauerwerk heraus und kommt listig inmitten von Hecken hoch. Und es wächst schnell. Fast kann man sagen, es breitet sich heimlich aus: eine „gelbe Gefahr“ quasi, denn inzwischen zählt man Ailanthus altissima zu den „100 schlimmsten invasiven Arten“.

Ich sehe ihn nicht so. Der preußische General-Gartendirektor Peter Joseph Lenné pflanzte ihn vor etwa 250 Jahren in das Palmenhaus auf der Pfaueninsel. Wenn sein Stamm astlos ist, ähnelt der Götterbaum tatsächlich mit seiner Krone aus Fiederblättern einer Palme. Man nannte ihn erst „Trümmerbaum“ und dann auch „Ghettopalme“.

Adlige und Bürger fanden den Baum zunächst attraktiv und pflanzten ihn in ihren Wintergarten oder auf ihrem Grundstück. Er gedieh auch, vermehrte sich jedoch nicht. Erst 1945 – als Berlin in Schutt und Asche lag – fing der Götterbaum an, sich hier zu verbreiten – und wie. Nach dem Mauerfall hat seine Berliner Population noch einmal enorm zugelegt. Die Gärtner raten, Götterbäume nur in Betoneinfassungen auszupflanzen. Der anspruchslose und widerstandsfähige Götterbaum breitet sich nämlich unterirdisch aus, bis zu drei Meter im Jahr, daneben aber auch durch Samen. Dazu braucht es mindestens zwei Götterbäume, denn sie sind getrenntgeschlechtlich.

Um aus dem Zierbaum eine Nutzpflanze zu machen, führte man in Wien einst neben dem Götterbaum, u.a. zur Bepflanzung der Ringstrasse, auch den Götterbaum-Spinner ein: ein schöner brauner Nachtfalter aus China, der an den Flügelenden eine schlangenaugenähnliche Zeichnung hat. Seine Raupen leben von Götterbaumblättern. Nach ihrer Verpuppung läßt sich aus ihrem Kokon eine Seide – die sogenannte „Eri-Seide“ – herstellen: haltbarer und billiger als die übliche, schreiben Heiderose Häslers und Iduna Wünschmanns in ihrem Buch „Berliner Pflanzen“ (2010), das mich für den chinesischen Götterbaum, diesen „angenehmen Schattenspender“, begeistert hat.

Man kann sagen: der Götterbaum und der Ailanthus-Spinner leben in einer engen Beziehung, auch wenn letzterer nicht zur Befruchtung der Baumblüten beiträgt, sondern nur seine Raupen sich von den Blättern ernähren läßt, die ihre einzige Nahrung bilden, denn als Schmetterling (Imago) nimmt er keine Nahrung mehr zu sich. Man kann deswegen noch weiter gehen und sagen: Dieser Falter ist eine Ausweitung des vom Tageslicht lebenden Götterbaums in die nächtliche Luft…Ein Spaß, den der Baum sich etliche Blätter kosten läßt. Ein Wiener Götterbaum hinter einer Kirche wird sogar freudig von den Menschen besucht und fotografiert, wenn ab Herbst die Puppen des Ailanthus-Spinners zum Überwintern in langen Trauben von seinen Zweigen hängen. „In Indien werden die Puppen gegessen, in Nepal als Hühnerfutter verwendet.“

Gar keine Freude machen dagegen die dumm-rabiaten Feldzüge gegen den Götterbaum – statt nun auch hier „seinen“ Schmetterling einzuführen, dessen Raupen ihn mindestens bremsen würden. In der besonders agressiv gegen invasives Leben vorgehenden Schweiz hat man kapituliert: Nun will man den Götterbaum dort nicht mehr vernichten, sondern an Berghängen pflanzen – als Lawinenbremse.

Der Westberliner Invasionsbiologe Ingo Kowarik schreibt: „Seine Bekämpfung hat im Mittelmeerraum bereits hohe Kosten verursacht. Als wirksame Methode zu seiner Vernichtung erwies sich, den Baum zu fällen und die Austriebe mit Glyphosat (Monsanto) zu behandeln. In den USA setzt man den Rüsselkäfer Eucryptorrhynchus brandti ein, um ihn biologisch zu bekämpfen.“ Auch der Widerstand der Bürger gegen dieses zu riesigen Bäumen sich ausweitende Unkraut wächst: Immer öfter greifen sie heimlich zur Axt. Und am nächsten Tag gibt es wieder einen Göttterbaum weniger. Gelegentlich beauftragen auch die Grünflächenämter eine Firma damit, z.B. eine Verkehrsinsel von den wuchernden Götterbäumen zu „befreien“. Der Götterbaum ist relativ resistent gegen Salz, Trockenheit und Herbizide und toleriert den von urbanen Luftverunreinigungen ausgehenden Stress oft besser als viele andere Stadtbäume. Ein drei bis fünf Meter hoher Straßenbaum kostet mit Pflege rund 1200 Euro. Berlins Stadtbäume wie Eichen, Rosskastanien und Platanen leben oft nicht lange. „Sie brauchen viel Wasser,“ schreibt die Welt. „Dazu kommen Belastungen durch Abgase, weniger Nährstoffe durch kleine natürliche Bodenflächen, weniger Licht, Streusalze und Hunde-Urin. Seit Jahren gibt es einen stetigen Baumverlust in der Stadt, der aus Kostengründen nicht mehr durch Neuanpflanzungen ausgeglichen werden kann.“ Stattdessen hofft die Stadt auf Sponsoren und initiiert schon mal kleine Crowdfunds, die so erfolgreich sind, dass die Hauptstadtpresse melden kann: „Neuer Stadtbaum gepflanzt.“

„An der Humboldt Universität empfehlen Wissenschaftler, Bäume anzupflanzen, die dem Klimawandel besser gewachsen sind. Seit 2010 haben sie rund 80 Baumsorten geprüft. In Versuchen versorgten sie einige frisch gepflanzte Bäume optimal, andere aber setzten sie einem moderatem oder akuten Trockenstress aus. Außerdem untersuchten sie deren Anfälligkeit für Krankheiten und Schädlinge.“ Die Tests gehören zu einem Forschungsprojekt der Humboldt-Universität und dem Innovationsnetzwerk Klimaanpassung Brandenburg Berlin. Den ebenso kostenfreien wie widerstandsfähigen Götterbaum haben sie natürlich nicht getestet – diese Penner.

Den Umschlag des Buches von Tom Schmieder „Als wir einmal fast erfolgreich waren“ (2021) zieren neben einigen linken Symbolen Gläser und Aschenbecher. Seine Geschichte beginnt im Jahr 1979. „Erfolgreich“ waren „wir“ i m Westen jedoch nur bis zum Pariser Mai 1968, danach griff hier langsam Willy Brandts Bildungsreform, die zum Einen d ie jungen Arbeiter Innen mit dem „Begabtenabitur“, bei dem niemand durchfallen konnte, an die Unis brachte und zum Anderen mehr als ein Dutzend „Reformuniversitäten“ aus der Erde stampfte , anfangs sogar mit drittelparitätisch besetzten Gremien. Für die Planung dieser Unis wurden zig linke „Rädelsführer“ eingestellt – und damit war die „antiautoritäre Bewegung“ wieder in die Hochschule zurück gedrängt .

Es geht mir hier jedoch um die Aschenbecher, die der Autor zu Recht auf seine m Buchumschlag abgebildet hat. In allen Seminarräumen, an den alten wie den neuen Unis, standen Aschenbecher auf den Fensterbänken – und zwar leere Fischkonservendosen. In den „WGs“ fand sich ein Sammelsurium von Aschenbechern aus den Elternhäusern: aus Glas, Metall, Keramik, mit Werbesprüchen oder Urlaubsortmotiven, rund, eckig, flach, hoch, klein, riesig, mit Abdeckung und ohne. .. In den Kneipen waren es oft solche mit dem Logo einer Brauerei oder einer Zigarettenfabrik, die sie den Wirten als Werbegeschenk mitgaben . In der Außengastronomie bewährten sich wegen gelegentlicher Windböen die billigsten Aschenbecher, die aus einem umgedrehten Blumentopf mit Untersatz best anden . I n den Behörden standen in den Wartezimmern bzw. -ecken Stand- A schenbecher – der unterschiedlichsten Machart; in der DDR bestanden sie einheitlich aus Aluminium (wo sind die bloß alle geblieben?).

Stand- A schenbecher braucht heute – seit dem Rauchverbot 2008 – jede Behörde und jede Firma : „ Herumliegende Kippenstummel vor Ihrer Eingangstür? Das muss nicht sein“ – mit diesem Spruch wirbt z.B. ein Unternehmen im Internet, das alleine 70 verschiedene Standaschenbecher anbietet, sie heißen „Eurokraft“. Anfangs lagen vor oder neben den Eingangstüren der Bürokomplexe und den U-Bahnhöfen jede Menge Kippen, weil es nicht genug orangene Abfallbehälter der (Berliner) Straßenreinigung gab. Ich entschuldige mein gelegentliches Kippenaustreten damit, dass ich ohne Filter rauche und ein Regentropfen genügt, um die Kippe zu zerbröseln. Während die mit Filter 10 bis 15 Jahre brauchen, um sich zu zersetzen.

Eine zeitlang wohnte ich in der Nähe von Arezzo, wo man sogar im Supermarkt rauchen konnte . A ls ich dort eine Handverletzung operieren lassen mußte, in der Nacht und auf die Schnelle, mußte der Chirurg von einer Wildschwein-Jagdfeier geholt werden. Er rauchte und stellte den Aschenbecher auf meiner Brust ab. Für die trotz seiner „lustigen“ Gestimmtheit gelungenen Operation mußte ich dafür in der kommunistischen Toskana nichts bezahlen. Sie wollten noch nicht ein mal meinen Namen wissen, obwohl sie mich danach noch über Wochen betreuten – d.h. meinen eingegipsten Daumen. Einmal ging ich ins Krankenhaus und der große Hof war voll mit Männern, die rauchten. Alle hatten irgendetwas eingegipst: einen Arm, einen Oberschenkel, einen Fuß, die Brust…Ich mußte stets zur selben OP-Assistentin gehen. „Was ist denn da passiert?“ fragte ich sie auf den Hof zeigend – und bekam zur Antwort: „Die Motorsägen-Saison hat angefangen!“

D er Hof der Klinik in Arezzo war voller Aschenbecher und Schilder, die auf sie hinwiesen – mit roten Pfeilen. Ich vermutete damals, dass sie der Hausmeister gemalt und angebracht hatte. Man könnte jetzt von da aus leicht auf meine Recherche über „Hausmeisterkunst“ zu sprechen kommen, die ich in meiner „Pollerforschung“ als interessanteste Untergruppe kennengelernt hatte, aber das würde zu weit führen. Obwohl es natürlich jede Menge aus unterschiedlichen Materialien selbstgebaute Stand-Aschenbecher in Pollerform gibt. W ie umgekehrt die Metallpoller an den Straßenrändern sobald ihnen die Kappe fehlt als Aschenbecher benutzt werden.

Die Kneipenwirte wundern sich immer wieder, warum es auf den Damen-Toiletten schmutziger ist als auf den Herren-Toiletten, sie hatten das Umgekehrte erwartet. Erforscher der „Dritten Orte“ fanden heraus, dass die Damen sich dort gerne mit anderen Frauen unterhalten und dabei rauchen, wobei sie einigen Abfall hinterlassen. E s gab dort keine Aschenbecher oder wenn, dann zu wenig. Den Männern sch ien es dagegen eher peinlich zu sein, auf der Toilette angetroffen zu werden. Männerkonkurrenz und gleich daneben Frauensolidarität?

In den Autos hat man die Aschenbecher abgeschafft, wer rauchen will, der muß sich einen kaufen, bei ebay bekommt man für 7 Euro 64 einen „ Auto Aschenbecher mit LED Windaschenbecher mit Deckel Gluttöter für draußen“. Einmal bekam ich zum Geburtstag einen kleinen Windaschenbecher mit Deckel Gluttöter geschenkt, aber schon am nächsten Tag im Großraumbüro hat ihn mir jemand geklaut.

Kann es sein oder trügt mich da meine soziale Phantasie, dass es mit der Aschenbecher-Kultur langsam zu Ende geht? Die Unbeugsamen sterben langsam aus. Ich kann mich noch erinnern, dass Frank Castorf in der Volksbühnen-Kantine lange nach dem Rauchverbot sagte: „So lange ich Intendant bin, darf hier geraucht werden.“ Dort standen große Porzellan-Aschenbecher auf den Tischen, so ähnlich wie die im Westen auf den „Stammtischen“ der Kneipen, die einen Tragegriff hatten, auf dem „Stammtisch“ stand. Erwähnt sei noch der Humboldt-Professor Friedrich Kittler: Wenn er ins Seminar kam, erschien hinter ihm sein Mitarbeiter Peter Geble mit zwei Stapeln Aschenbecher, die er im Raum verteilte. Meine ersten Vermieter eines möblierten Zimmers in Westberlin, zwei alte Frauen, riefen , auf meine Frage, ob ich im Zimmer rauchen dürfe: „Rauchen Sie, rauchen Sie, das hält die bösen Geister fern.“

Jetzt muß man meistens auf den Balkon gehen. Früher kannten wir so etwas gar nicht – einen Balkon, meine ich. Wozu auch? Die Publizistin Barbara Ehrenreich erwähnt in ihrem Buch „Wollen wir ewig leben?“ (2018) Arbeiter, Krankenschwestern und alleinerziehende Mütter, für die die „Zigarettenpause“ fast lebenswichtig ist. Vor einiger Zeit besuchte ich mit einem amerikanischen Freund London. Überall in den Ecken und Hauseinangängen standen kleine Gruppen von Frauen. Mein Freund konnte es nicht fassen , wie viele Prostituierte es allein in der City gab, bis wir heraus bekamen, dass es Sekretärinnen und Arbeiterinnen waren, die draußen eine Rauchpause eingelegt hatten. In den ersten Jahren nach dem Rauchverbot sprachen die Arbeitgeber von einer „betriebswirtschaftlichen Belastung“ durch diese vielen Abwesenheiten der Raucher vom Arbeitsplatz. Arbeiten oder Rauchen war zu einer Alternative geworden, während zuvor das Rauchen der Arbeit zugute gekommen war.

Von einem alten Freund, der viel dichtet und fast Kettenraucher ist, erfuhr ich, dass seine Freundin ih n ab und zu daran erinnert , dass er bei „Parship“ in der Rubrik Rauche n „gelegentlich“ angekreuzt habe. Abschließend könnte man vielleicht noch den Gedanken anbringen : Vor den Rauchern sterben die Aschenbecher.

Fahrräder und Roller

Die weltweit ersten Fahrräder wurden in den Sechzigerjahren von der anarchistischen Gruppe „Kabouters“ in Amsterdam freigelassen. Diese sogenannten „weißen Fahrräder“ standen überall herum und konnten von jedem benutzt werden. Man durfte sie nur nicht abschließen oder in Privaträumen abstellen. Die „Kabouterbewegung“ endete mit der Wahl der führenden Kabouters ins Rathaus. Zuvor waren ihre kommunalisierten F ahrräder auf behördlichen Widerstand gestoßen: Unabgeschlossene Räder seien im öffentlichen Raum verboten. Sein Privateigentum muß man schützen. Die kostenlosen weißen Leihräder wurden eingesammelt und den Aktivisten zurückgegeben. So endete das erste Experiment – von unten.

Das zweite setzte ein Bremer CDU-Politiker i n den Achtzigerjahren durch – von oben: Es wurden jede Menge Fahrräder im Stadtraum verteilt und es gab eine Fahrradreparatur-Station, vorwiegend auf ABM-Basis, die mit ausrangierten Polizei-Mannschaftswagen ausgestattet w ar . Damit wurden kaputte oder überholungsbedürftige Fahrräder im Straßenraum eingesammelt, instand gesetzt und dann wieder frei gelassen. Das Projekt verschwand nach einiger Zeit, bis auf die Fahrradwerkstatt, so viel ich weiß .

Nach 2009 gab es hierzulande in einigen Städten erneut „weiße Fahrräder“, „Ghostbikes“ genannt. Man stellte sie überall dort auf, wo ein Radfahrer von einem LKW oder PKW getötet wurde – als stationäre Mahnmale.

Das dritte Fahrrad- Experiment geht derzeit nicht von Bürgern oder vom Staat aus, sondern von mehreren K onzernen: mit bezahlbaren E-Bikes (etwa 10 Euro pro Stunde) , die sie in vielen Städten irgendwo hinstellen. „Erste E-Bike-Flotte zum Ausleihen startet in Hamburg“, schrieb das Hamburger Abendblatt 20 19 . „ Mit 350 E-Bikes startet ein Schweizer Start-up gemeinsam mit Free Now“. Free Now ist eine „Multi Mobility App in über 100 Städten“. Vor allem zum Bestellen von Taxis oder Mietwagen – der „Mobilitätsanbieter“ ging aus „Mytaxi“ hervor. Die herumstehenden E-Bikes, für deren Benutzung man bezahlen muß, werden wie die weißen Fahrräder in Bremen eingesammelt – aber im Gegensatz zu den in Bremen: A lle. Ihre Akkus müssen aufgeladen werden. Es wurden Berichte veröffentlicht über die Arbeitsbedingungen der armen Schlucker, die mit eigenem PKW Nacht s die E-Bikes einsammeln, u nd natürlich vermehrt auch die überall herumstehenden E-Roller („E-Scooter“).

Sie vor allem stoßen immer öfter auf Widerstand: Das reicht vom Schimpfen über die vielen auf dem Gehweg liegenden E- Roller und ihre r Beschädigung bis zum Versenken in Teichen, Kanälen und Flüssen. In Paris gibt es eine Studentengruppe namens „Guppy“, die regelmäßig die Seine vom Müll befreit – mittels Magneten. In einem Monat holten sie „ 58 E-Tretroller, 11 Fahrräder und 2 E-Motorroller“ aus dem Fluß.

2 019 schrieb das „manager-magazin“ noch: „ Auch in Deutschland gibt es das Phänomen , w enn auch wohl nicht in allzu großem Ausmaß. In der Berliner Umweltverwaltung zum Beispiel führt man dazu keine Statistik. Es handele sich um ‚Einzelfälle‘ und sei ‚unproblematisch‘.“

Das hat sich inzwischen aber wohl geändert. Wenn der Tagesspiegel anfangs noch vermutet hatte, bei den Tätern handele es sich um Betrunkene, so ging die Berliner Zeitung wenig später schon von einem nüchternen Täterkreis aus. Die eher mit der „Randale in Brüssel“ gegen die E-Fahrzeug-Vermieter liebäugeln. Nachdem die Betreiber der E-Roller sich geweigert hatten , ihr Eigentum aus den Berliner Gewässern zu bergen (d as würde sich nicht lohnen ), erklärte eine „ autonome Gruppe den Fahrrädern und Rollern den Kam pf , gezielt machen linksautonome Anarchisten Jagd auf die Drahtesel – vorwiegend von der amerikanischen Firma Uber. Auch E-Roller und andere Leihräder werden immer öfter Opfer von zerstörungswütigen Menschen, die die Nase offensichtlich voll haben von Uber und Co.“

In Djakarta wurden in den Neunzigerjahren im Zuge einer Modernisierungskampagne 15.000 Fahrradrikschas von einem Tag auf den anderen eingezogen, auf Schiffe verladen und an einer Stelle im Meer versenkt. Alle Umweltaktivisten schrien empört auf. 2010 stellten Taucher jedoch fest, dass der riesige Eisenskeletthaufen auf dem Grund inzwischen tausenden von Fischen und anderen Meerestieren „Heimat“ geworden war .

Die massenhaft versenkten E-Scooter und andere E-Mobile , deren Vermietung von Konzernen betrieben wird, sind wegen ihres Akkus noch viel giftiger als die Fahrradrikschas. In Berlin erfreuen sich die verkehrspolitisch-ökologisch eingeführten Fahrradrikschas dagegen einer zunehmenden Beliebtheit, obwohl oder weil sie eine überwunden geglaubte Klassenspaltung symbolisieren.

„Gestern habe ich sogar Klimaleugner, ein Ehepaar, zum Schloß Charlottenburg gefahren,“ erzählte einer der Rikschafahrer, der schon auf seinem Gefährt für klimafreundliche Mobilität wirbt. Ein anderer, der sportliche Schriftsteller Falko Hennig, schrieb ein Buch mit dem Titel „Rikscha Blues“ , in dem er erzählt, wie einem Rikschafahrer jeder Tag „neue Fahrgäste, Bekanntschaften, Abenteuer und seltsame Geschichten bringt“. Auf Amazon heißt es: „Am Ende ist es aber auch eine lakonische, nackte Abrechnung mit der Stadt, falscher Liebe und den Wirrungen des Zwischenmenschlichen.“

So heißt eine wachsende Zahl von, sagen wir: Millennials, jetzt. „Proteste der Klimajugend“ titelte die FAZ, die NZZ schrieb: „Die Klimajugend ist zurück“. 66.700 Einträge zum Stichwort „Klimajugend“ verzeichnet die Suchmaschine „Google“ bereits. Handelt es sich dabei wirklich um ebenso viele Gruppen und Grüppchen, die im Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie die Seiten gewechselt haben? Inzwischen wird man mit mails der Klimajugend geradezu bombardiert. Und immer mehr Leute fragen sich – bei jedem Wetter: Ist das noch normal – oder war da früher (vor einigen Jahren) um diese Zeit noch ein ganz anders Wetter? Ein kurzer Überblick hinterläßt den Eindruck, dass unter den Internet-Eintragungen viele sind, von denen das „Klima“ selbst sagen würde: „Uff meene Pisse Kahn fahrn, det könnse.“

Der Künstler Thomas Kapielsky hat einmal eine Zeitschrift mit diesem Namen herausgegeben. Ich glaube, meinen Beitrag darin, ein Ost-West-Comic, der nach der Wende am Seddiner See spielte, fand er nicht so gut – hat aber nichts gesagt. Es ist wahrscheinlich, dass der Ost-West-Konflikt bei der Klimajugend nur eine geringe Rolle spielt. Die Kulturwissenschaftlerin Nicole Kaminer schrieb allerdings eine Hausarbeit über sich und ihre Kommilitoninnen, die sie alle ständig über die DDR reden, obwohl oder gerade weil sie nach 1990 geboren wurden. Daneben würden sie sich, wenn gefragt, wohl auch noch zur Klimajugend zählen.

Es gibt inzwischen einen Wikipedia-Eintrag zum Begriff „Klimajugend“. Dabei landet man bei „Fridays for Future“, wozu man Näheres im Eintrag „ Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg“ findet, der Gründerin dieser Bewegung quasi: „Sie ist eine schwedische Klimaschutzaktivistin. Ihr Einsatz für eine an den Erkenntnissen der Wissenschaft orientierte, konsequente Klimapolitik findet weltweit Beachtung…Als Klimastreikerin fand Greta Thunberg ab November 2018 Nachahmer – zunächst unter schwedischen Schülern“, und dann weltweit.

In ihrer Rede vor der UNO hatte Greta Thunberg betont: „ Es sei die Aufgabe der Jugend, zu verstehen, was ihr die ältere Generation mit dem Klimawandel angetan habe, und das Chaos aufzuräumen, mit dem ihre Generation leben müsse. Daher müssten junge Menschen nun selbst dafür sorgen, dass ihre Stimmen gehört würden.“ Wenn man in diesem Wikipedia-Zitat das Wort „Klimawandel“ anklickt, dann gelangt man zum Stichwort „Globale Erwärmung“, wo es heißt: „Die gegenwärtige globale Erwärmung ist der Anstieg der Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre und der Meere seit Beginn der Industrialisierung . Es handelt sich um einen menschengemachte n Klimawandel.“

Es gibt dazu ein Unterstichwort: „Klimawandelleugnung“ (kurz: Klimaleugner), wozu beinahe alle gehören, die viel zu verlieren haben – bis hin zu einem Arbeit s platz (bei VW z.B.), und die deswegen zu mehr Gelassenheit mahnen.

Alte „Klimaaktivisten“ wissen allerdings – von Lacan: „Jede Wissenschaft beginnt mit einer Hysterie.“ Im Eintrag „ Greta Thunberg“ heißt es vorab seltsamerweise : „ Ihr Einsatz für eine an den Erkenntnissen der Wissenschaft orientierte, konsequente Klimapolitik findet weltweit Beachtung.“ Seltsam, weil sie doch statt auf die von ihr geschmähten Politiker gerade auf die „junge Generation“ setzt, von der es heißt, dass sie es nicht hinnehmen will, als Heranwachsende oder Erwachsene in einer zerstörten Welt zu leben. Also auf Massenbewegung statt Politik aus ist .

Auch das Stichwort „Klimastreik“ in ihrem Wikipedia-Eintrag deutet darauf hin, dass sie dabei eher auf ihre Kohorte als auf die Weißkittel hofft. Unter dem soziologischen Begriff „Kohorte“ versteht Wikipedia: „ Gruppen von Personen, die gemeinsam ein bestimmtes längerfristig prägendes Ereignis erlebt haben. Die Einteilung in Kohorten kann der Abgrenzung von Bevölkerungsgruppen dienen.“

A ber das letzte will die Klimajugend gar nicht , die zwar noch (qua ihrer Geburtsjahrgänge) abgegrenzt ist, aber alle Welt für den Widerstand gegen die neoliberale bzw. kapitalistische Wirtschaftsweise gewinnen – überzeugen will, womit wir wieder bei der Wissenschaft wären, denn ihr glaubt man noch am meisten – d.h. den Experten. Sagen wir es so: Greta Thunbergs Klimajugend verläßt sich auf die Wissenschaft, aber nicht auf die Wissenschaftler.

Es geht dabei um das Ende des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, denn „es gibt keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische,“ wie der Wissenssoziologe Bruno Latour nicht müde wird zu betonen . Die Kulturwissenschaftler Benjamin Steininger und Alexander Klose sprechen vom „Ende der Petromoderne“ in ihrem „Erdöl-Atlas“ (2020). Am 4.9. eröffnen sie bereits im Kunstmuseum Wolfsburg (!) nach vierjähriger Vorbereitungszeit eine „Rückschau“ auf die Petromoderne: „Oil – Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters“.

Auch die internationale Klimajugend hat eine ökologische Utopie, ihrer Bewegung haben sich deswegen immer mehr indigene Gruppen oder Völker in Asien und den beiden Amerikas angeschlossen. In letzter Zeit erscheinen dazu auch vermehrt Bücher von Autoren aus de m Kreis der „First Nations“, aus Kanada z.B., das als „Ehrengast“ damit auch auf der Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober vertreten sein wird. In den USA erhielt die deutsch-indianische Autorin Louise Erdrich gerade für ihren Roman „Der Nachtwächter“ – über einen alten Reservats-Aktivisten, der ihr Großvater war, den Pulitzerpreis. Die deutschen Verlage kommen mit dem Übersetzen nicht nach. Bei dem Lebens- und Stammesbericht des jungen brasilianischen „Indianerkriegers“ Madaewjuwa Tenharim hat sein Interviewer, der „Zeit“-Korrespondent in Rio Thomas Fischermann, die Übersetzung und Herausgabe selbst besorgt. Leider hat sich der Verlag 2018 dafür den großsprecherisch- endzeitlichen Titel „Der letzte Herr des Waldes“ ausgedacht.

Wieviel e Werkzeugkästen ich schon gehabt habe in meinem Leben, angefangen mit einem für Laubsägearbeiten und Drachenbau? Später hing in meinem Kinderzimmer ein Holzschrank an der Wand, der etwa 2 0 Werkzeuge zur Holzbearbeitung enthielt. Zuletzt verlieh ich einen 8 0teiligen Werkzeugkasten, vergaß aber an wen, und erwarb dann einen unschlagbar billigen 1 6 0teiligen Werkzeugkasten aus China im „Baumarkt“, als man dort wieder ohne große Coronamaßnahmen und „Zeitfenster“ einkaufen konnte.

Als wir einige Jahre auf dem Land lebten und dort ein Bauernhaus modernisierten, ging ich, so oft wie jetzt in einen Buchladen, in ein Eisenwarengeschäft in der Kreisstadt , in dem die Verkäufer noch graublaue Kittel trugen. Wenn man nicht genau den Fachbegriff, sagen wir „ Stich säge mit Pendelhub“ oder „Torx“ für Innen-Sechsrund-S chrauben, wußte, hatte man bei ihnen schlechte Karten. Es war eigentlich ein Geschäft für Handwerker – noch nicht auf „Do-it-yourself“-Kunden eingestellt. Und dass man von allem immer nur ein en Gegenstand oder nur einige wenige brauchte, die man umständlich beschrieb, machte sie nervös, auch dass man statt einer „Hilti“-Bohrmaschine für Profis eine billige „Black & Decker“ wollte.

Das Gegenteil erlebte ich Jahre später auf den dörflichen Wochenmärkten in Burma, wo jedes Werkzeug (für Handwerk, Küche, Garten und Landwirtschaft) ein Unikat war. Da ich quasi Werkzeug e sammel, hätte ich am Liebsten alle dort gekauft, aber sie war en einzeln schon zu schwer – ein „Masse-Ding“ in der doppelten Bedeutung, wenn ich auch nur eins davon mit nach Hause geschleppt hätte für meine S ammlu ng . Der Philosoph Martin Heidegger unterschied laut Wikipedia zwischen „Vorhandenem“ und „Zuhandenem“ (z. B. Werkzeug). „Ein Hammer ist dabei für ihn primär durch seinen sinnhaften Bezug zum Menschen und zu anderen Dingen in der Welt charakterisiert. Erst wenn er von dem Beziehungsgeflecht entkleidet wird – beispielsweise indem er auf eine Waage zwecks Gewichtserfassung gelegt wird –, wird er zum bloß noch vorhandenen Masse-Ding.“

Man sagt auch : „ Für Leute, die nur einen Hammer als Werkzeug haben, ist jedes Problem ein Nagel.“ Als ich bei verschiedenen Bauern arbeitete und auf ihren Höfen oft verlegte Werkzeug e fand , gewöhnte ich mir an, die Teile zu sammeln und an ein großes Brett mit Nägeln zu hänge n , wobei ich die einzelnen Werkzeuge schwarz umrandete, so dass man sah, wenn eins fehlte. Die Bauern begrüßten diese Neuerung.

Der Wissenshistoriker Michel Foucault meinte einmal: „Nehmt meine Werke als Werkzeugkasten“. Inzwischen gibt es einen völlig idiotischen „philosophischen Werkzeugkasten“. In Westberlin lebte und arbeitete eine zeitlang der Arbeiterkünstler Raffael Rheinsberg, dessen Kunst immer wieder aus Werkzeug-Arrangements bestand, weswegen er sie auch gerne in der Galerie der IG Metall ausstellte. Ich erinnere mich an einen Raum mit zig verrosteten Werkzeugen auf dem Boden, die er aus der Elbe gefischt hatte – vermutlich mit einem Magneten an einer Angel. Ein andern Mal stellte er Werkzeuge und andere Gegenstände aus, die er in den Schreibtischschubläden des verlassenen Narva-Kombinats an der Oberbaumbrücke eingesammelt hatte.

Seine Kunst sah auf den ersten Blick ähnlich aus wie die von jungen Männern auf dem Westberliner „Polenmarkt“ einst ausgelegten, Gebraucht-Werkzeuge, die sie billig verkauften. Ein kurdischer Trödler bot mir dort einmal zwei verrostete Wolfsfallen für 40 DM an – lange bevor der erste Wolf die Oder in Richtung Westen überquerte – im Jahr 2000: der dreibeinige Naum. Als ich dem Händler sagte, es gäbe in Deutschland keine Wölfe, meinte er hellsichtig, es sei nur eine Frage der Zeit, bis ich solche Werkzeuge gebrauchen könne. Ich wußte jedoch nicht: Meinte er, dass ich sie gegen eventuell aus dem Osten eindringende Wölfe benötige oder weil wir wegen der Chinesen uns in bälde als Fallensteller, Jäger und Sammler wiederf ä nden , w omit der Publizist Henryk M. Broder uns gelegentlich droht?

Erst mal kommen immer mehr Werkzeuge und Werkzeugmaschinen aus China: Neulich erwarb ich spottbilig zwei riesige Schraubzwingen von dort, die eine „Hohe Qualität“ haben sollten. D as war doch etwas übertrieben, ob wohl auf der Verpackung stand: „Ein Mann, der recht zu wirken denkt, muß auf das beste Werkzeug halten. (Johann Wolfgang von Goethe).“ Aber immerhin h ieß es in einer Kundenbeurteilung des Händlers dann : „ Ich kann die Produkte im Bereich T-Nut Schienen, Gehrungsschienen und Einlegeplatten für Oberfräsen nur empfehlen!“

Aber es g eht hier um Werkzeugkästen: In einer historischen Ausstellung in Amsterdam sah ich einmal einen alten „christlichen Werkzeugkasten“ (für Missionare zur Bekehrung von Heiden ) und eine noch ältere „Werkzeugkiste gegen Vampire“ ( um sie zu töten ) – in beiden war das Wichtigste: Kreuze und Pistolen.

Für Aristoteles waren die Sklaven einst „belebte Werkzeuge“. In maschinisierter Form komm t das der Vorstellung des Genetikers, Nobelpreisträgers und Ritters Paul Nurse nahe, der meinte „ lebende Organismen, seien zwar ziemlich komplizierte, aber letztlich verständliche chemische und physikalische Maschinen,“ und das sei „gegenwärtig die vorherrschende Auffassung vom Leben“. – D ie er auch in seinem Buch „Was ist Leben?“ (2021) vertritt , das aber bloß eine Art Werkzeugkasten ist, um ein Leben auseinander zu bauen.

In Erinnerung an Volker Brauns Geschichte „Die vier Werkzeugmacher“. Erzählt wird darin die „komische und grausame Verwandlung einer Werkzeugmacherbrigade aus der Vorstadt Schweineöde. Von der Geschichte ‚bis hierher glimpflich behandelt‘, besondere Leute, die sich Einfalt leisten konnten, finden sie sich in ihrem Betrieb nicht wieder; sie sind enteignet, entlassen und wieder eingestellt – ‚Aber als was? Als wer?‘“

Die M+E-Unternehmen (der Metall- und Elektroindustrie) sind nicht nur wegen Corona von einer Rezession betroffen, Kapazitätsauslastung und Auftragsbestände sind derart zurückgegangen, dass sie 2019 erstmalig seit neun Jahren wieder Mitarbeiter entlassen haben. „Die Beschäftigungspläne der M+E-Unternehmen lassen keine Besserung erwarten,“ teilt der Arbeitgeberverband Gesamtmetall mit.

Dennoch übertrifft die Zahl der gemeldeten offenen Stellen in den M+E-Berufen weiterhin die Zahl der Arbeitslosen. Die Bundesagentur für Arbeit zählte im August 2019 in den M+E-Berufen 127.900 Arbeitslose, rund 10.100 mehr als im August 2018. Andererseits waren knapp 154.600 offene Stellen gemeldet.

Anfang 2019 stiegen die Bruttomonatsverdienste der Beschäftigten laut Arbeitgeberverband um 3,2 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum. 2018 waren die Monatsverdienste aufs ganze Jahr gerechnet um durchschnittlich 2,5 Prozent gestiegen.

Der IG Metall zufolge bewegen sich die Tariflöhne der Beschäftigten in den bundesdeutschen M+E-Betrieben zwischen 2900 und 3200 Euro im Monat, wobei die in Ostdeutschland eher im unteren Bereich und die in Westdeutschland im oberen liegen. Hinzu kommt noch: „Während in den westlichen Tarifgebieten seit der Wiedervereinigung häufig übertarifliche Zulagen gezahlt wurden und werden, verharren die Arbeitgeber in den neuen Bundesländern meist auf Tarifniveau. Nur für wenige Beschäftigte, insbesondere im Bereich qualifizierter Angestellter, die vom Westen in den Osten gezogen sind, wurden und werden dort übertarifliche Zulagen gezahlt. Dies führt in vielen Betrieben zu Ungerechtigkeiten.“

Zur Tarifentwicklung macht Gesamtmetall geltend, dass das Jahresentgelt von 1990 bis 2018 real um rund 31 Prozent stieg. Für die Unternehmen gab es einen „Wiedervereinigungs-Boom“ und zwischen 2006 und 2008 einen „kräftigen Aufschwung“. Von dem Boom konnten jedoch die von der Abwicklung ihrer DDR-Betriebe Betroffenen nicht profitieren – im Gegenteil: In einigen M+E-Unternehmen wurden sogar Ost-Ingenieure in den Westbetrieben als Fließbandarbeiter eingestellt. Das war u.a. beim Wechsel von Narva-Beschäftigten zu Osram der Fall.

Um ihre Betriebe nicht widerstandslos von der Treuhandanstalt abwickeln zu lassen, kam es in einigen M+E-Unternehmen im Osten zu Protesten, Demonstrationen, Warnstreiks und Betriebsbesetzungen – in Oberschöneweide z.B. bei einem Betriebsteil des Batteriewerks BAE.

Bei den M+E-Unternehmen in ganz Deutschland kam es laut einer Statistik von Gesamtmetall zwischen 1999 und 2018 bei durchschnittlich 1000 Betrieben zu durchschnittlich 20tägigen Warnstreiks. Wobei 1999 und 2018 über 2000 Betriebe bestreikt wurden und 2000 und 2010 so gut wie keine.

Aufgrund der globalisierten Konkurrenzsituation bei den M+E-Unternehmen kommt es zu Wettrennen bei der Modernisierung (Roboterisierung) der Produktion, was zu einer ständigen Reduzierung der Belegschaften führt. Wenn nicht sogar die Produktion gleich in Billiglohnländer verlegt wird oder das M+E-Unternehmen sein Profil verändert.

So wurde der Mannesmannkonzern erst an das Mobilfunkunternehmen Vodafone verkauft und dann zerschlagen. Die Krupp AG erwarb die Mehrheit an der Hoesch AG und fusionierte dann mit der Thyssen AG: „Nachdem sich der Aktienkurs nun innerhalb eines Jahres halbiert hat, läuft die Zeit von Thyssen-Krupp im Dax ab,“ schreibt das Handelsblatt. Osram verkaufte alle seine Lampen-Produktionsstätten (die meisten an chinesische Unternehmen) und behielt einzig die Sparte Leuchtdioden, diese läßt das Unternehmen in Malaysia herstellen. Ähnlich war es bei dem kurzen Boom der Solarzellen produzierenden Firmen, die zum großen Teil dem Preisdruck chinesischer Firmen weichen mußten. Besonders gravierend war die Entwicklung bei den Stahlwerken in Ost- und West-Europa: Über die Hälfte wurde abgewickelt und die andere nach mehreren Fusionen vom indischen Unternehmer Lakshmi Mittal aufgekauft.

Grundsätzlich kann man vielleicht sagen, dass die Zeit der Industriearbeiterschaft in Mitteleuropa zusammen mit dem sogenannten „Stahlinismus“ an ein Ende kommt, aufgefangen werden die Beschäftigten höchstens im Dienstleistungssektor, der seit dem Internet boomt, aber so niedrige Löhne zahlt, dass die Bundesregierung sich gezwungen sah, eine Mindestlohngrenze festzulegen.

Anders ist die Situation bei den hochtechnisierten Spezialfirmen in dieser Branche, die nicht als Industrie- sondern als Handwerksbetriebe gelten. Hierbei läßt sich die Entwicklung nicht verallgemeinern. So gibt z.B. der für die Werkzeubau Dunkel GmbH in Oberschöneweide zuständige Gewerkschaftssekretär der IG Metall zu bedenken: „Möglich ist z.B., dass irgendwann 3-D-Drucker Einzug bei den Werkzeugmachern halten. Das ändert noch mal alles.“

Den „Klimawandel“, die „Klimaforschung“, die „Klimaleugner“ – das kennt man, aber „Klimaanlagen“? Der Umweltjournalist Benjamin von Brackel hat in seinem Buch „Der Natur auf der Spur“ (2021) viele Studien versammelt, die nahelegen, dass „der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt“: die auf der nördlichen Halbkugel lebenden in Richtung Arktis und die auf der südlichen in Richtung Antarktis. Oftmals ist es bei den Tieren ihre abwandernde Nahrung, denen sie notgedrungen folgen müssen. Bei den Menschen ist das nicht unbedingt so: Zwar fliehen immer mehr, aus Afrika z.B., in den Norden, weil sie in ihren Geburtsorten kein Auskommen mehr finden, aber gleichzeitig siedeln sich u.a. immer mehr Amerikaner in den heißesten Bundesstaaten (Nevada, Florida und Arizona) an, wo die durchschnittliche Höchsttemperatur im Sommer fast 40 Grad beträgt. Ähnliches gilt für die Europäer, die vermehrt vom Norden in den Süden Europas ziehen. Einer der Gründe ist laut dem US-Schriftsteller John Green (in: „Wie hat ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“ – 2021) „das Wunder der Klimatisierung. Sie hat das Leben der Menschen in den reichen Ländern tiefgreifend verändert“.

Erfunden hat sie der US-Ingenieur Willis Carrier 1902 für den Buchdruck. Seine Klimaanlagenfirma „Carrier Corp.“ gibt es noch heute – und die Klimaerwärmung tut ihr saugut: Sie ist eine der größten Hersteller weltweit. Carrier hatte den „Prozess des Heizens mit Strom umgekehrt und Luft statt durch heiße durch kalte Spulen laufen lassen,“ schreibt John Green.

Der US-Schriftsteller Eric Dean Wilson arbeitet an einem Buch über Klimaanlagen, denn „Klimaanlagen sind immer politisch,“ wie er seiner Kollegin Eula Biss mitteilte, die das in ihrem „Non-Fiction“-Buch „Was wir haben“ (2021) erwähnt. Wilson fand heraus: „Die erste vollständige und funktionierende Klimaanlage wurde in der New Yorker Börse eingebaut.“

Saudi-Arabien will inzwischen alle Bushaltestellen damit ausrüsten. Auch die größte Milchvieh-Anlage der Welt (mit 50.000 Holsteinkühen) ist ohne elektrische Kühlung – mitten in der dortigen Wüste – nicht denkbar. Ihr Futter wird eingeflogen.

Neuere Hochhäuser, die ganz ohne Klimaanlage auskommen, gibt es nur wenige . Es sind Luxuswohnanlagen. Das höchste Hochhaus der Welt steht in Dubai, der „Chalifa-Turm“. Für die Klimatisierung des in einer Wüstenregion stehenden Hochhauses sind 60 Luftschächte installiert, die wie Kamine in umgekehrter Richtung, also von oben nach unten wirken. Im Gegenzug muss gegen den Überdruck rund um die Uhr heiße und beschleunigte Luft abgesaugt werden, heißt es auf Wikipedia . Hierbei hat man den Effekt der Klimaanlage, die kalte Luft ausbläst, noch einmal umgedreht.

Laut der Internationalen Energiebehörde (IEA) machen Klimaanlagen und Ventilatoren „weltweit rund zehn Prozent des gesamten Stromverbrauchs aus, und ihren Erwartungen nach wird die Nutzung von Klimaanlagen sich in den nächsten 30 Jahren verdreifachen.“

Als Aushilfshausmeister mußte ich die letzten Jahre im Sommer ein Dutzend Steh-Ventilatoren aus China für die Büros kaufen – jedesmal waren sie in allen Geschäften erst mal vergriffen. Im Spätherbst verschwanden sie seltsamerweise nach und nach aus den Büros – und mußten im nächsten Sommer neu gekauft werden.

John Green schreibt: „Wie die meisten Energie fressenden Innovationen nützt die Klimatisierung hauptsächlich Menschen in reichen Gemeinschaften. Die Konsequenzen des Klimawandels werden dafür vor allem von Menschen in ärmeren Gemeinschaften ertragen.“ Dort, in Indien und Pakistan z.B. sind vor allem die Einkaufszentren stark unterkühlt, weil das vornehm ist, Jugendliche halten sich gerne dort auf, sie sagen, wenn sie sich riesig freuen: „ Mir wird ganz kühl ums Herz“. Billige Touristenhotels werben mit „air conditioning“. Man hat dann auf den Zimmern die Wahl: Entweder kann man wegen des Lärms der alten Kältemaschine n nicht einschlafen oder wegen der stummen Hitze im Raum oder wegen der Mücken bei offenem Fenster. Philipinische Freunde von uns, die zur „Berlinale“ im Februar anreisten, schliefen sich hier vor allem in unseren kühlen Gästezimmern aus, obwohl sie bei Manila in einem Haus mit einer modernen, leisen Klimaanlage lebten.

Hierzulande unterbieten sich aber auch schon die Anbieter von Klimaanlagen, die sie einem nachträglich einbauen. Zu ihrer Umweltschädlichkeit heißt es im Internet: „ Laut Umweltbundesamt entspricht eine Tonne fluorierte Treibhausgase 1.300 Tonnen CO2-Äquivalente. Zusätzlich erhitzen Klimanlagen in Autos durch den erhöhten Spritverbrauch das Klima. Um bis zu 1,8 Liter pro 100 Kilometer steigt der Spritverbrauch.“ Der österreichische Verkehrsclub erinnert daran: „ Das verwendete Kühlmittel von Klimaanlagen ist ein aggressives Treibhausgas und damit extrem umweltschädlich. Rund 150 Tonnen der fluorierten Treibhausgase gelangen durch die Klimanlagen von Österreichs Autoflotte in die Luft! „Die Klimaanlagen in Pkw s sind Klimakiller.“

Nicht nur sie, alle Klimaanlagen sind gleichzeitig Ursache und Wirkung der Klimaerwärmung. „Aber Klimaanlagen werden auch deshalb immer häufiger, weil immer mehr Menschen Kontrolle über ihre Innenräume als gegeben voraussetzen,“ meint John Green. Weil in den USA die ideale Büroraum-Temperatur für die Klimaanlage anhand der Temperatur-Päferenzen „von 40jährigen 80-Kilo-Männern in Geschäftsanzügen“ festgelegt wurde, war es den dort arbeitenden Frauen lange Zeit zu kalt, wie eine Studie ergab. Nachdem die Temperatur auf 25 Grad erhöht worden war, stieg ihr „Schreib-Output“ und die „Fehlerquote“ sank. Der Journalist Taylor Lorenz schrieb auf Twitter: „Die Klimaanlagen von Büros sind sexistisch“. Selbst im neuen „GSW-‘Öko-Hochhaus‘“ an der Rudi-Dutschke-Strasse klagten die Mitarbeiter darüber, dass sie nichts individuell regeln durften, um sich wohler zu fühlen. Der Jahresverbrauch an Strom beträgt pro Quadratmeter zwischen 100 und 500 Kilowattstunden, schätzt man.

Der marxistische Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel setzte den Abstraktionscharakter der Marktwirtschaft beim Tauschvorgang an, wobei er nicht auf die Eigenschaften Gebrauchswert und Tauschwert, sondern auf die Tätigkeiten Gebrauchen und Tauschen abhob. „The act is social but the minds are private“ – beim Tauschakt. Sohn-Rethel war bis in die Siebzigerjahre in seinem englischen Exil geblieben, wo er sein Hauptwerk „Geistige und körperliche Arbeit“ schrieb. Seiner These von der Entstehung der Abstraktion im Tausch, wurde von Marxisten widersprochen, für die er mit der kapitalistischen Produktion entstand – bei der Herstellung bereits.

Beim Lesen des Buches eines französischen Sägewerk-Arbeiters, der 1953 über seine Arbeit in „Das Sägewerk“ (2020) berichtet hatte, konnte ich mir etwas unter ihrer kapitalistischen Produktionslogik vorstellen. Die Hand-, ebenso wie die Kopfarbeiter konkurrieren nicht nur auf dem „freien Markt“ als Arbeit Suchende gegeneinander, sondern auch als „Beschäftigte“ noch. Dies beschreibt der Autor detailliert, sein Bericht besteht im Wesentlichen daraus, wie sie sich in den Sägewerken das Leben schwer machen, sich gegenseitig demütigen, kleine Vorteile verschaffen etc., um dem „Leistungsdruck“ individuell und männiglich stand zu halten.

War das auch noch z.B. beim neuen Opelwerk in Eisenach, der 1995 „produktivsten Autofabrik Europas“, der Fall? Dort hatte die DDR zuvor den „Wartburg“ produziert und die Treuhandchefin Birgit Breuel angesichts des geringeren „Leistungsdrucks“ im Arbeiter- und Bauernstaat ebenso pauschal wie infam von einer hohen „Arbeitslosigkeit“ gesprochen, die in den volkseigenen Betrieben bloß „versteckt“ worden sei?

Heute geht jedenfalls die Tendenz bei der nach produktivsten japanischen Fertigungsmethoden, dem Toyotismus, funktionierenden Opel-Fabrik eher in die entgegengesetzte Richtung, meinte der Betriebsratsvorsitzende Harald Lieske, der zuvor im Wartburg-Werk arbeitete. Die heute sechs- bis sieben-köpfigen „Teams”, mit ihren von außen bestimmten „Team-Sprechern”, die nebenbei noch als Springer fungieren, sollen durch die Selbstorganisation ihrer Arbeitspensa nebst ständiger Verbesserungsvorschläge kontinuierlich die Schnelligkeit (Produktivität) steigern – bei mindestens gleichbleibender Qualität.

Schon bei einem Ukas aus der Zürcher Opel-Zentrale, die Werksferien von drei auf zwei Wochen zu verkürzen, befürchtete der 15köpfige Betriebsrat (vier davon Freigestellte), daß die Arbeits-Teams dafür zu klein seien. Jeder hat sechs Wochen Urlaub im Jahr, dazu kommt noch eine gewisse Anzahl Krankentage. Der eigentlich für die Organisation und den Papierkram zuständige Team-Leiter müßte dann manchmal für zwei Leute einspringen. Die Eisenacher Geschäftsleitung darf andererseits nicht einfach mehr Leute einstellen und versucht stattdessen den Krankenstand zu senken. Auch bei den Überstunden reagiert sie ähnlich und versuchte von Anfang an Sonderschichten beim Betriebsrat durchzusetzen, der deswegen die Einigungsstelle anrief.

Das stärkste betriebliche Disziplinierungsinstrument ist jedoch die Selbstorganisation der Teams selbst. Zwar zieht jeder mal einen mit, der an einem Tag verkatert ist, zu Hause Probleme hatte oder ganz einfach mal einen schlechten Tag erwischte. Aber jemand, der dauernd zu spät kommt oder dessen Einsatz kontinuierlich nachläßt – und so die Team-Leistung drückt, wird von seinen Kollegen rausgedrängt. „Da können wir dann auch nichts mehr machen,” meinte der Betriebsrat 1998.

Die erste Bevollmächtigte der IG Metall-Verwaltungsstelle Eisenach, Renate Hemsteg von Fintel, beklagte sich dagegen über den Opel-Betriebsrat, der sich zu wenig für seine Leute einsetze: „Die Mitarbeiter, die die Arbeitsintensität nicht mehr packen, kommen alle zu uns, wenn sie nicht mehr weiter wissen, sie fühlen sich vom Betriebsrat im Stich gelassen. Opel zahlt keinen richtigen Leistungslohn, d.h. Leistungssteigerungen werden nicht entlohnt, obwohl der Betrieb immer produktiver, die Arbeit also immer anstrengender wird. Schlimm ist auch das gewaltsame Runterdrücken der Krankheitsquote – mittels Rückkehrgesprächen und sogar Kontrollbesuchen zu Hause. Das führt dazu, daß die sich zur Arbeit schleppen, auch wenn sie krank sind. Die Team-Mitglieder erziehen sich gegenseitig, um nicht der Anwesenheitsprämie verlustig zu gehen. Es kann nicht sein, daß einer, wenn er älter wird und nicht mehr so kann, dann von seinem Team rausgedrückt wird. Schwerbehinderte werden gar nicht erst eingestellt, die produziert Opel Eisenach inzwischen selbst – siebenundzwanzig bis jetzt,” bemerkte die IG-Metall-Funktionärin 1998 bitter. Am 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse, würden die „Opelaner“ jedoch immer stolz vorneweg marschieren.

Sohn-Rethel meinte, bei einem Arbeitskampf müssen die Arbeiter sofort den Kontakt mit den Ingenieuren und Technikern suchen, um die Produktionsbedingungen menschlicher zu gestalten. Anzustreben sei die „Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit“, wie eine Parole in der chinesischen Kulturrevolution lautete. Über ihre praktische Umsetzung damals gab es eine Studie der Harvard-Universität, sie wurde 1972 vom späteren Außenminister Joschka Fischer ins Deutsche übersetzt.

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2022/10/08/ein-paar-dinge-mehr-oder-weniger/

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Machen Sie mit bei taz zahl ich und leisten einen Beitrag für ein offenes Internet und freien Zugang zu unabhängigen Journalismus.