Nobelpreis für Louise Glück: Die Tugend der Füchsin

2022-10-09 13:51:16 By : Ms. Carolyn Hsu

Warum sehe ich FAZ.NET nicht?

Permalink: https://www.faz.net/-gr2-a47ni

Aktuelle Nachrichten aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur

Herausgegeben von Gerald Braunberger, Jürgen Kaube, Carsten Knop, Berthold Kohler

Louise Glück bei der Verleihung der National Humanities Medal mit einem bekannten amerikanischen Politiker Bild: dpa

Lustbringend, nicht lehrreich: Der Literaturnobelpreis für die Dichterin Louise Glück würdigt eine Dimension der Weltsprache Englisch, die zwischen Twitter und Popsong schnell übersehen wird: ihre schillernde Kraft kultureller Erinnerungsstiftung in größter Modernität.

Permalink: https://www.faz.net/-gr2-a47ni

M an kann Gedichte durchaus unter Aussparung ihrer formalen Besonder- und Schönheiten nacherzählen, rein stoffbefangen; dann fehlt dem Witz halt die Pointe. Die allerbesten Witze halten das erstaunlicherweise aus, sie sind dann bloß lehrreich statt lustbringend. In Louise Glücks Gedicht „The Mountain“ erzählt lyrische Lebensklugheit irgendwelchen nicht näher bestimmten gelehrigen Ohren davon, dass das Leben der Kunst ein Leben endlos schwerer Arbeit sei. Als das die Horchenden nicht beeindruckt, wird es mit der Legende von Sisyphos illustriert. Denselben Stein immer wieder bergaufwärts zu schieben bringe durchaus Freude mit sich, eine besondere Sorte, man sei ganz bei sich und könne so etwa einem ominösen „Urteil“ einer anderen Instanz entgehen. Von ihrer eigenen kräftezehrenden Mühe mit dem ganz persönlichen Felsbrocken spricht die lyrische Stimme dann auch, etwas beiseite, und zur Bezeichnung der individuellen Art, wie sie sich da die steile Steigung empormüht, benutzt Louise Glück ein merkwürdiges Adverb: „slyly“. Nicht Verausgabung von Energie ist also der Punkt am Werk, sondern Schlauheit, die Tugend des Fuchses Reineke, der den königlichen Löwen anlügt und damit „der Verurteilung“ entgeht, eluding judgment. Schlaue Arbeit ist nichts, was Hände schwielig macht, aber sie hinterlässt Spuren in der Landschaft, sogar auf deren höchstem Niveau, auf den Gipfeln – das Gedicht endet so: „Both my hands are free. And the rock has added / height to the mountain.“

Die 1943 in New York geborene Amerikanerin Louise Glück erhält den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2020. Erwartbare zänkische Rangbestimmungsbeißerei unter Leuten, die für moderne Lyrik in englischer Sprache brennen, fing zehn Minuten nach der Meldung aus Stockholm in Lesekreisen off- und online sofort an, wertlose Fragen zu stellen wie: „Wenn die größten Modernistinnen der angloamerikanischen Lyrik, Frauen wie Gertrude Stein, Hilda Doolittle oder Elizabeth Bishop, den Preis nicht gekriegt haben, wie kann man ihn dann einer Epigonin geben, die nur weiß, wie man den Brocken auf den Berg kriegt, weil andere ihr das vorgemacht haben?“

Das Versäumnis gegenüber Großen kann indes die Genugtuung über die Anerkennung einer nach sämtlichen von ebenjenen Großen aufgerichteten Maßstäben allemal Würdigen logisch nicht trüben; außerdem sind Emily Dickinson und Hildegard von Bingen auch leer ausgegangen, was solls? Glück selbst hat das Kontinuum, in dem sie wirkt, nie verschwiegen; sie weiß, dass sie nicht aus dem Nichts kommt, ihr Debütbändchen, „Firstborn“, das im Zäsurjahr 1968 erschien, widmete sie „my teacher“ – das Wort lässt in ihrer Sprache aparterweise kein Geschlecht erkennen.

Begönnert man die Dichterin mit modischer Gender-Galanterie, wenn man sie als entschieden weibliche Stimme liest? Ein altes, allerlei Gewohnheiten implizites Sozialdekret nicht nur des Abendlandes sieht „die Frau“, weil sie Kinder kriegen kann, während der Mann sich in Werken fortsetzt und verewigt, als Naturwesen. Louise Glück liebt dezente Irreführungen auf diesem Glatteis und spricht daher mit der Natur oft vertraulicher als mit dem lesenden menschlichen Gegenüber. Im Gedicht „Sunset“, das, umgeben von vielfältigen irdisch-kosmischen Übungen mit Titeln, die heraufziehende Stürme, Mittagsstimmungen und Zwielicht versprechen, den Band „A Village Life“ (2009) regiert, erlaubt Glück der Majestät Sonne königlich-geschwisterlich, so von Sprachmacht zu Gestirn, das Untergehen: „So it can set now.“ Im ersten Schnee legt sie ein andermal die ganze Welt schlafen, obwohl diese wie ein quengeliges Kind noch wach bleiben will.

Permalink: https://www.faz.net/-gr2-a47ni

FAZ Plus Artikel: Künstlerin Joan Jonas in München : Botschaften aus der Tiefsee

Der Gesang vom Eis: Das Münchner Haus der Kunst würdigt die sechsundachtzigjährige Performerin Joan Jonas mit einer Retrospektive.

Literaturnobelpreis 2022 : Moralisch in anderer Hinsicht

Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an Annie Ernaux. Die Schwedische Akademie enttäuscht damit manche Erwartungen an eine rein politische Wahl und bleibt ihren eigenen Prinzipien treu.

FAZ Plus Artikel: Édouard Louis in Frankfurt : Soziologischer Blick auf Eddy

„Das Ende von Eddy“ hat Édouard Louis berühmt gemacht. Nun erzählt er die Geschichte als Methode der Transformation und begeistert im Literaturhaus Frankfurt.

Krieg in der Ukraine : Selenskyks Schadenfreude über Explosion auf Krim-Brücke

Angriffe auf Infrastruktur : „Man kann nicht jeden Strommast schützen“

Reaktion auf Proteste : Baerbock fordert weitere Sanktionen gegen Iran

Ukraine-Liveblog : Neue EU-Ausbildungsmission mit Hauptquartieren in Polen und Deutschland

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2001 - 2021 Alle Rechte vorbehalten.

Nobelpreis für Louise Glück: Die Tugend der Füchsin

Nobelpreis für Louise Glück

Die Tugend der Füchsin

Lustbringend, nicht lehrreich: Der Literaturnobelpreis für die Dichterin Louise Glück würdigt eine Dimension der Weltsprache Englisch, die zwischen Twitter und Popsong schnell übersehen wird: ihre schillernde Kraft kultureller Erinnerungsstiftung in größter Modernität.

Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte überprüfen Sie Ihre Eingaben.

Vielen Dank Der Beitrag wurde erfolgreich versandt.